Am Höhe- und
Wendepunkt des Films

Zum Ensemble von Tim Fehlbaums Kinodrama „September 5“ gehört auch der Münchner Schauspieler Sebstian Jehkul. Wenn er gerade nicht spielt, baut er. Er ist nämlich auch Handwerker.
Text von Christoph Oellers
6 Minuten Lesezeit
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Finster blickt der Polizist, der nach knapp zwei Dritteln des Films auftritt. Finster im ohnehin schon dunklen Setting von September 5. Er klopft nicht an, weist sich nicht aus, sondern bricht ohne Vorwarnung mit seinen drei Kollegen in die Etage ein, die der amerikanische Sender ABC gemietet hat und von der man aus die Olympischen Spiele von München überträgt. Seit den frühen Morgenstunden des 5. September 1972 senden die Journalisten nicht mehr von den heiteren Spielen und den sieben Goldmedaillen des Mark Spitz, sondern improvisieren im Politischen – sie bezeugen, begleiten und beeinflussen die Geiselnahme der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ im Olympiadorf hundert Meter weiter.

Der Polizist hat keinen Namen, im wirklichen Leben heißt er Sebastian Jehkul, 31, ist Schauspieler, der das Mozarteum in Salzburg besucht hat. Er marschiert bis in den Senderaum, der nur aus Bildschirmen zu bestehen scheint. „Kameras aus!“. Dummerweise ist die Übersetzerin in dem Augenblick anderweitig eingespannt, sie hört den Polizeifunk ab, die Amis verstehen kein Deutsch, aber die Gestik ist eindeutig, der Polizist droht mit der umgehängten Maschinenpistole und zeigt streng auf die Geräte. Den Hausherren bleibt nichts anderes übrig als sich zu fügen. Streng und finster und doch ziemlich ohrengrün bis dünnhäutig wirkt der Vertreter des westdeutschen Gewaltmonopols.

Mit Tim Fehlbaum hat er vereinbart, den Polizisten körperbetont zu spielen, aber auch in all seiner Überforderung, Verunsicherung und Verzweiflung dazustellen.

„Es ist der Höhe- und Wendepunkt des Films“, sagt Jehkul. Es ist bezeichnend, dass im zweiminütigen Trailer die Szene zu einem Gutteil vorkommt. Er habe mit Regisseur Tim Fehlbaum vereinbart, den Polizisten sehr intensiv, körperbetont zu spielen, aber auch in all seiner Überforderung, Verunsicherung und Verzweiflung darzustellen. „Das waren ja alles Verkehrspolizisten, die allenfalls mal einen Gauner hochgenommen haben.“

Wir trinken Cappuccino in einer Biobäckerei im Münchner Schlachthofviertel, in unmittelbarer Nähe seines neuen und alten Zuhauses. „Ich ziehe gerade innerhalb derselben Straße um.“ Er hat den Deal mit dem Eigentümer des neuen Zuhauses, dass er die Wohnung vor dem Einzug renoviert, abgehängte Decken von Fichtenholz aus den 1970er Jahren befreit, andererseits hinterlässt er die alte Wohnung geweißelt. Er trotzt dem Umzugstheater das Gespräch ab. Für eine neue Kleiderordnung fehlt die Zeit. Er trägt eine vornehmlich malerweiß gesprenkelte dunkle Arbeitshose, dazu Pullover, Jacke und Käppi.

Schauspieler Sebastian Jehkul vor seiner Lieblingsbäckerei im Schlachthofviertel

Jehkul hatte sich bereits intensiv auf das Vorsprechen bei der großen Casterin Simone Bär vorbereitet. Er hatte im Netz recherchiert, viel gelesen, Filme gesehen und stieß wie zufällig auf eine Zeitgenossin: Die Mutter einer Freundin war Polizistin und damals in Fürstenfeldbruck beim blutigen Ende des Horrortages dabei. „Sie hat gehört, wie die Geiseln schrien, als sie im Hubschrauber verbrannten.“

Die Zusage Bärs ließ lange auf sich warten. „Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet.“ Den Dreh in den Bavaria-Filmstudios erlebte Simone Bär nicht mehr. Sie starb im Januar 2023 mit 57 Jahren.

Jehkul war für einen Tag gebucht. Er bereitete sich weiter akribisch auf die Rolle vor. Er mache das so, dass er einen Bezug zur Person bekommt, die er darstellen solle, damit er seine Persönlichkeit einbringen kann. „Ich suche Anknüpfungspunkte, damit ich mich mit der Rolle vernetzen kann.“ Bei seiner ersten großen Rolle als Soldat, als Rudolph Torsten in dem portugiesischen Film Mosquito von 2019 – in Ostafrika zur Zeit des Ersten Weltkriegs spielend – nahm er sieben Kilo ab, ließ sein Barthaar wild sprießen und schrieb ein fiktives Tagebuch. Im Unterschied zum Method Acting sei dieses Herangehen nicht so plötzlich, man wachse mehr in die Rolle hinein. „Method Acting haben wir natürlich auf dem Mozarteum auch ausprobiert, aber das ist mir zu aggressiv, da begibt man sich von einem auf den anderen Tag in die Person rein.“ Nach Mosquito drehte Jehkul gleich den nächsten Abendfüller, eine Produktion für die ARD. In dem Kammerspiel Now or never spielt er den Ehemann der Hauptfigur, die an einem unheilbaren Hirntumor leidet.

Nach dem Dreh zu September 5 hatte er am nächsten Tag als Arbeiter Schicht in den Bavaria Studios.

Jehkul war von der dichten und professionellen Atmosphäre am Set von September 5 beeindruckt, wie er erzählt. Noch in der Mittagspause diskutierte er mit Fehlbaum und Peter Sarsgaard, der den Mastermind, den damals Standards setzenden Produzenten Roone Arledge verkörpert, darüber, wie sie die weiteren noch zu drehenden Takes am besten angehen. Sarsgaard selbst zeigte Respekt gegenüber der Art, wie der junge Kollege sich Situation und Rolle angeeignet hat.

Trotz Umzugsstress, trotz der Schaffenspause bei Film und Theater wirkt Sebastian Jehkul ruhig. Vielleicht rührt der Eindruck von Gelassenheit an seiner tiefen Stimme, wahrscheinlich liegt das an seiner Sozialisation auf dem Land in Mittelfranken, 30 Kilometer von Nürnberg weg, in einem Dorf, das nicht mehr als 180 Einwohner*innen zählt. Hier ist er mit drei älteren Geschwistern als Sohn einer Klavierlehrerin und eines Biologen groß geworden. Er hat eine Jugend gehabt, von der Großstadtkinder keine Ahnung mehr bekommen können. Er hat Baumhäuser gebaut, mit seinem Bruder ein Trike gebastelt – ein Dreirad, das ein englischer Rasenmähermotor antrieb und schnell wie ein Mofa war –, und als Bootsbauer ist er grandios gescheitert. „Wir haben gemerkt, dass das Boot uns zwei nicht trägt. Also haben wir an den vier Ecken Bretter mit Kanistern als Auftrieb befestigt. Als wir einstiegen, sausten die Bretter sofort nach oben und wir soffen ab.“ Der verschlammte Grund war rasch erreicht. Der Dorfweiher hat im Normalfall hüft- bis kniehohen Pegel.

So war das mit ihm: die Schauspielerei war stets der Traum, das ferne Ziel, die Bodenhaftung gab das Handwerk. So ist es auch jetzt. Nach dem Dreh zu September 5 hatte er am nächsten Tag als Arbeiter Schicht in den Bavaria Studios. Damals war er fürs Licht zuständig, inzwischen wirkt er beim Aufbau der ganzen Shows, die hier produziert und gedreht werden, mit. „Ich mache alles: schreinern, tischlern, schlossern, Metall verarbeiten, malern  – das liegt mir halt, das Handwerkliche.“ Nicht nur das.

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Christoph Oellers
Fotos: Linda Gschwentner, Christoph Oellers
Digitales Storytelling und Gestaltung:
 Schmid/Widmaier

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