Das Filmfestival
über gesell­schaft­liche
Verände­rungen

Nah dran und zugänglich: Das DOK.fest München 2024 (1.–12. Mai 2024/ 6.-20. Mai @home)) findet wieder dual statt und wird relevante Themen wie Demokratie, Überwachung und KI verhandeln. Eine kleine Vorausschau.
von Olga Havenetidis
6 Minuten Lesezeit
A

Am 16. Februar 2024 meldete die russische Gefängnisverwaltung den Tod von Alexej Nawalny. Das Münchner DOK.fest-Publikum verbindet mit diesem Namen, zusätzlich zu all jenem, was es mit dem laut SPIEGEL „schärfsten Kritiker der russischen Regierung“ zu verbinden gibt, einen ganz besonderen Moment: den Moment, in dem das Festival im Mai 2022 das Festival eröffnete. Als Deutschlandpremiere lief der Film von Daniel Roher in München und zusätzlich zu der ganzen Aktualität, die im Leben wie im Film bedrückend erschien, bedeutete die Eröffnung damals aber auch im Widerspruch dazu einen Moment der Euphorie und Befreiung, weil sie die erste große gesellschaftliche Veranstaltung in der Stadt nach mehr als einem Jahr Pandemie war. All diese gegensätzlichen Gefühle tauchten bei der Todesmeldung wieder auf und auch die Erinnerung an das DOK.fest München, das in zwei Monaten wieder startet. Wird es dann wieder Filme geben, deren düstere Vorahnungen irgendwann Wirklichkeit werden? Bestimmt.

Ein Festival, das sich auf den Dokumentarfilm konzentriert und das so kuratiert wird wie von Daniel Sponsel und seinem Team, kann gar nicht anders, als sein Publikum mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, kritisch zu konfrontieren. Bei einem Gespräch für die FilmNews Ende Januar im Stadtcafé, gegenüber von der Münchner Synagoge, antwortet er auf die Frage, wie sich die Suche nach dem neuen Festivalprogramm für Mai 2024 gestaltet: „Wir suchen Filme, die gesellschaftliche Veränderungen thematisieren.“

Gesellschaftliche Veränderungen gibt es wohl, seit es Gesellschaften gibt, so bewusst wie heute waren sie den Gesellschaften aber vielleicht nicht immer. Durch die zeitgenössischen Kommunikationsmittel folgt die Sichtbarmachung und Auseinandersetzung der Veränderung ihrem Phänomen auf dem Fuße, wenn sie ihr nicht sogar zum Teil vorausgeht. Aktuelle Veränderungen sind ebendiese, also Folgen der Digitalisierung, die durch KI sich ihrerseits verändert, und die auch zu den gegenwärtigen Herausforderungen für die Demokratie gehört. Die Art zu debattieren hat sich ebenso verändert, wie sich die Arbeitswelt verändern wird. Ökonomisches Wachstum stößt an Grenzen, der klimatisch bewohnbare Raum auf dem Planeten reduziert sich. Eine Pandemie haben wir gerade hinter uns, auch diese wirkt nach. Epidemiologen sprechen sogar von einem ganzen Zeitalter der Epidemien. Wenn das stimmt, dann haben wir noch einiges vor uns. Gesprochen wird auch vom Zeitalter der multiplen Krisen, auch ausgelöst durch Kriege.

Dies in aller Kürze, als Destillat des Diskurses. Das DOK.fest München gibt mit seinem Programm ein umfassenderes Bild des Zustands. So erfüllt es zwei Funktionen: Es zeigt, wie Dokumentarfilme heutzutage gemacht sind, ihre Erzählweise, ihren künstlerischen Ausdruck, ihre Visualität. Es zeigt aber auch, wie unsere Welt heute beschaffen ist, welche Themen virulent sind, welche Probleme bestehen. Eine eigene Reihe des DOK.fest München 2024 wird sich dem Zustand der Demokratien widmen. Das Festival geht ins Detail, indem Filme aus sehr vielen Ländern zu sehen sind, die jeweils auch lokale Krisen behandeln. Es zeigt das große Ganze, indem die Gesamtschau einen Zusammenhang herstellt zwischen allen diesen Krisen und Themen. Viele der Filme haben keinen Verleih für Deutschland, sind also nur dort zu sehen.

Den Weg des dualen Systems geht das DOK.fest konsequent weiter 80-90 Prozent der Filme werden auch online zu sehen sein. Dies mache, betont Daniel Sponsel, nicht für alle Filmfestivals Sinn. Für ein Dokumentarfilmfestival seiner Reichweite jedoch absolut. Die Notwendigkeit sieht er nicht nur durch die neuen Nutzungsgewohnheiten gegeben, sondern auch durch das hohe Gut der Zugänglichkeit. Das Anbieten von barrierefreien Filmen ist auf die Weise leichter umzusetzen. Seit 2020 arbeitet das DOK.fest München auf eigene Initiative mit fünf anderen Festivals aus Barcelona, Biarritz, Budapest, Thessaloniki und Mazedonien zusammen, um Dokumentarfilme im Projekt Doc Around Europe auf einer VoD-Plattform sogar europaweit zu verbreiten. Das dadurch eingenommene Geld geht zum Großteil an die Rechteinhaber*innen.

2024 wird das DOK.fest München etwa Projekt Ballhausplatz zeigen, Kurt Langbeins Film über, so der Untertitel Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz. Darin geht es darum, wie es den sogenannten Prätorianern in Österreich gelungen ist, wichtige Positionen zu besetzen und wie, der Untertitel sagt es schon, Sebastian Kurz zu Fall kam. Für Daniel Sponsel ist hier bemerkenswert, dass auch die andere Seite, die der Politik, beleuchtet wird. Ein weiterer Film über einen ehemaligen Staatschef ist At this Moment, in the Nation’s Sky über Jair Bolsonaro, ein Film, der den Ex-Präsidenten Brasiliens über einen längeren Zeitraum begleitet hat. Ein weiterer Film wird sich mit dem Thema der Überwachung befassen. Von Sabine Lidl ist der Film Doris Dörrie – Die Flaneuse über die Münchner Autorin, Schriftstellerin und Regisseurin, die im politisch-gesellschaftlichen Diskurs oftmals ihre Stimme erhebt.

Sehr nah dran an den Menschen und ihren Geschichten sind die Amsterdamer Filmemacher*innen Petra Lataster-Czisch und Peter Lataster. Ihnen ist die diesjährige Hommage gewidmet. Fünf Filme laufen im Programm: Tales of a River (1994), If we knew (2007), Not without you (2010), Jeroen, Jeroen (2011) und Miss Kiet’s Children (2016). Die Filme erzählen von den Veränderungen der Menschen in Dessau kurz nach dem Mauerfall, von Kinderärzt*innen auf einer Intensivstation für Frühgeborene, von einem Künstlerehepaar, bei dem er schwerhörig ist und sie vergesslich im Stil einer Liebesgeschichte, von einem geistig behinderten Autisten und von einer Integrationsklasse. Dabei sind nicht nur die Themen gerade heute hochaktuell, sondern nach Meinung der DOK.fest-Kurator*innen auch mit der so bedeutsam gewordenen Sensibilität beobachtet und wiedergegeben. So ist das Thema der Diversität beim DOK.fest München 2024 wie stets durch die Auswahl der Filme gegeben.

Für Daniel Sponsel ist klar: Dokumentarfilmfestivals präsentieren Filme, die relevant sind, nah dran sind an Bewegungen und Ereignissen. Schon allein dadurch steigere sich ihre Bedeutung. Es gebe aber natürlich auch weiterhin Unterhaltung, wobei das eine das andere nicht ausschließe. Generell beobachtet er in der Dokumentarfilmindustrie, dass das Geld knapper wird. Eine Zeitlang sah es besser aus durch mehr Produktionen, vor allem für Streamer und Privatsender. Der Markt sei nun aber wieder kleiner geworden. Teilweise werde der Wegfall von Finanzierungspartner*innen aber durch NGO’s und Stiftungen kompensiert. Die Streamer hätten Erzählweisen dauerhaft geprägt. Mit einer Progressivität, die gerne gesehen würde, aber nicht in letzter Konsequenz ausgeführt werden könnte. 

Progressiv bleibt das DOK.fest München auch in Bezug auf Virtual Reality. Das Team arbeitet gerade daran, auch Extended Reality-Experiences zeigen zu können. AI und KI und die Zukunft der Mediatheken werden die großen Themen im DOK.forum sein und dort verhandelt.

Ebenfalls im Programm laufen werden Filme von Macher*innen, die aufgrund von kriegerischen oder krisenhaften Situationen in ihren jeweiligen Ländern nun im Exil leben – in der Reihe „Filmmakers in Exile“, die in Kooperation mit dem „Goethe-Institut im Exil“ stattfindet. Schön wäre, wenn es eines Tages exakt von diesen Macher*innen Filme geben könnte über ihre glückliche Rückkehr – und wenn das DOK.fest München ihnen dann wieder eine eigene Reihe widmen würde.

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Redaktion: Dr. Olga Havenetidis
Gestaltung: Schmid/Widmaier

Zum nächsten Artikel

FFF PRESSE
LUNCH WIEDER
IM JANUAR