Eins ist klar: Wer den neusten Schmöker von Michaela Krützen liest, trägt daraufhin eine spezielle Brille, die nicht mehr abgenommen werden kann. Waren ihre bisherigen Schriften strukturell und historisch – und ebenfalls prägend für alle Leser*innen – nähert sich die Filmwissenschaftlerin dieses Mal phänomenologisch den Filmen an. Die Phänomene lauten Zeitverschwendung, Gammeln, Warten, Driften. Sie werden aber nicht ausschließlich filmimmanent gedeutet, sondern vor dem Hintergrund historischer und gegenwärtiger Hintergründe und Entwicklungen anhand von weiteren Texten aus Soziologie, Psychologie und Philosophie. Insofern ist Zeitverschwendung, so der Titel dieses bei S. Fischer erschienenen Buchs, ein diskursanalytisches Werk, in dem alle Methoden der Autorin, die sie in den vorhergehenden Publikationen eingeführt und angewendet hat, eingeflossen sind. Neu ist dieses Mal, dass neben Filmen Romane analysiert werden. Pro Kapitel bilden je ein Film und je ein Roman ein Paar, die Überleitungen bilden weitere Filme und Romane. Ein reicher Reigen, der gleichermaßen die Leser*innen individuell anspricht, ihren ureigenen Umgang mit der Zeit hinterfragt und die Allgemeinbildung erweitert oder, wer weiß, hier und da überhaupt erst aufbaut. Wie die kreativen historischen Sanskrit-Texte, die nicht nur linear von links nach rechts und von oben nach unten, sondern auch diagonal und auf alle erdenkliche Arten gelesen werden können, ist auch Zeitverschwendung rückwärts, durcheinander und kreuz und quer lesbar, und das natürlich in voller Absicht. Es gibt ein Wiedersehen mit Marie Antoinette, mit Betty Draper mit Hans Castorp, mit Fellinis Müßiggängern und mit dem legendären Dude aus The Big Lebowski.
Ein Hoch
auf die
Langeweile
Wer meint, nur kurz mal reinlesen zu können, wird schnell merken, dass das ein Irrtum ist: Denn die Sprache entwickelt einen Sog, dem sich wohl keine*r entziehen kann. Dabei ist es geradezu erstaunlich, dass ein so allumfassendes Thema, das alles und nichts ist, also Zeit, hier so gut greifbar gemacht wird. Ganz nebenbei gelingt es Michaela Krützen damit, das Medium Film als Instrument für die Untersuchung und Analyse des Lebens und der Zeit (!) einzuführen. Als wäre Film ein Raum, der den Schlüssel für das Geheimnis der Welt hütet und sich jedem öffnet, der bereit dafür ist. Das Thema ist auch nicht vom Himmel gefallen, sondern heute speziell relevant: Die Digitalisierung und die Pandemie haben unseren Umgang mit Zeit verändert und geprägt, die nicht abgeschlossene Digitalisierung tut dies weiterhin. Zeitverschwendung bildet die zeitgemäße Weiterentwicklung von Deleuzes Zeitbild und wird von nun an immer in einem Atemzug mit dem Klassiker genannt werden.
Der Abend war somit nicht nur Lesung, nicht nur Wissenschaft, nicht nur Film, sondern auch: Porträt
In der Einleitung und im Fazit formuliert die Wissenschaftlerin in persönlichen Worten, nimmt die Lesenden an die Hand, um mit ihr das Denkabenteuer zu beginnen und es im eigenen Denken fortzusetzen. Persönliche Worte prägten auch den Abend, den Julia von Heinz, Professorin für Spielfilm-Regie, für die Präsentation des Buches organisierte: Eine Lesung, in der Michaela Krützen Passagen aus dem Buch vorlag und mit Filmszenen illustrierte. Das Bühnenbild war orientiert an den Wohnzimmern der Siebziger- und Achtzigerjahre, derjenigen Zeit also, in der die Autorin zur Schule ging und studierte. Der Abend war somit nicht nur Lesung, nicht nur Wissenschaft, nicht nur Film, sondern auch: Porträt. Es waren vor allem die persönlichen Anmerkungen, die sowohl bei der Vorleserin als auch bei der Moderatorin die Erkenntnis lautwerden ließ, dass wir alle uns so oft wie möglich hingebungsvoll langweilen sollten – denn dann kommt die Kreativität zum Vorschein. Ein Abend, der ganz und gar nicht langweilig war, ganz und gar keine Verschwendung, sondern tiefsinnig, lustig und inspirierend – und nachhallend.
Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Olga Havenetidis
Digitales Storytelling und Gestaltung: Schmid/Widmaier