Einzig­artige
Koope­ration

Erstmals kooperierten Festival der Zukunft, Filmfest München, FFF Bayern, Residenztheater und XR Hub Bavaria und boten mit ihrer Initiative „Munich Beyond 2025“ im Forum der Zukunft einen spannenden Blick in die aktuelle Welt der Extended Reality.
Text von Jürgen Moises
8 Minuten Lesezeit
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Schon mal vom „Weißen Terror“ in Taiwan gehört? Was dieser für die Betroffenen bedeutet hat, davon vermittelt The Man Who Couldn’t Leave von Chen Singing einen bleibenden Eindruck. Bei der halbstündigen XR-Experience steht man zunächst dem ehemaligen politischen Gefangenen A-Kuen gegenüber, der Geschichten von seiner eigenen Verhaftung und der von anderen Regime-Gegnern im Jahr 1950 erzählt. Dies wurde durch das 1949 eingeführte Kriegsrecht in Taiwan möglich. Und Schätzungen zur Folge könnten in der Zeit danach bis zu 3.0000 Menschen getötet worden sein. Einer davon war A-Kuens Freund A-Ching, dessen Schicksal, seine Zeit im Gefängnis auf der „Grünen Insel“ und seine Hinrichtung wir dann hautnah miterleben. Am Ende weitet sich die Experience zu einem eindringlichen Plädoyer für Freiheit, Widerstand und Kameradschaft aus.

Im Jahr 2022 bekam Chen Singing bei den Filmfestspielen in Venedig dafür den „Immersive Best Experience“-Award. Und vom 3. bis 5. Juli war The Man Who Couldn’t Leave nun beim Festival der Zukunft in München als einer der virtuellen Höhepunkte zu sehen. Dort, im Forum der Zukunft des Deutschen Museums, aber auch darüber hinaus, war unter dem Titel „Munich Beyond“ eine ganze Reihe an immersiven Performances und XR-Experiences zu erleben. Hinzu kamen Präsentationen und Diskussionen. Außerdem stellten die Finalisten des mit 1.000 Euro dotierten „New Realities Competition“ ihre Arbeiten im Rahmen von „Munich Beyond“ vor. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Fusion von Extended Reality (XR) und Künstlicher Intelligenz (KI). Ein weiterer auf XR als „Medium für kollektive Erfahrungen“.

Veranstaltet wurde „Munich Beyond“ vom Festival der Zukunft in Kooperation mit dem Filmfest München, dem XR HUB Bavaria, dem Residenztheater und dem FFF Bayern. Mit dem Ziel, ein möglichst breites Publikum zu finden und diesem XR als „das spannendste Medium unserer Zeit“ zu präsentieren. Im Falle von The Man Who Couldn’t Leave ist das zweifelsfrei gelungen. Wobei die taiwanesische XR-Arbeit keineswegs die einzige eindrückliche oder preisgekrönte Experience war. Taiwan war bei „Munich Beyond“ Gastland. Andere Werke stammten aus Europa. Und mit der VR-Doku von Amadeus Hiller über die Streetart-Legende Loomit und der Experience Duchampiana von Lilian Hess und Myndstorm waren auch Arbeiten aus München dabei.

Das Besondere an Hillers 15-Minuten-Film Cityflow – Loomit ist, dass es die erste deutsche VR-Doku mit einer 16K-Bildauflösung ist. Und bei der vom FFF Bayern geförderten, 2024 mit dem IFFR-Award in Rotterdam ausgezeichneten XR-Experience Duchampiana ist das Ungewöhnliche, dass sie Virtual Reality mit einem Stepper, einem Fitness-Gerät verbindet. Das heißt, es geht hier als Teil der Handlung virtuelle Treppen hoch und das bringt einen real ins Schwitzen. Bei Moonlit Characters von Linh Vuong gilt es mit Bezug zum chinesischen Poeten Libai (701-762) chinesische Schriftzeichen virtuell nachzumalen. Und bei Mixed Signals von kennedy+swan ist es genauso wie bei Plastocene Reef von Tamiko Thiel möglich, mit Tablet oder Handy Naturmotive an der Wand zum Leben zu erwecken. Wobei die Korallen im letzten Fall aus virtuellem Plastikmüll sind. 

Bei Experiences wie Flow, Mirror oder Ito Meikyū hieß es dagegen nur, die VR-Brille aufzusetzen und den Kopf ein bisschen zu drehen. Aber auch das mit einem oft verblüffenden Ergebnis. In Flow von Adriaan Lokman fand man sich dabei in einer Welt voller Luftwirbel wieder. Die charmante Geschichte über einen mutterlosen Blechjungen in Mirror von De-Chuen Wu & Yi-Ping Cheng könnte so ähnlich auch vom Amélie-Erfinder Jean-Pierre Jeunet stammen. Boris Labbé hat in Ito Meikyū aus Motiven der japanischen Literatur und Kunstgeschichte ein faszinierendes Labyrinth geschaffen, durch das man sich mit den Augen „zoomen“ kann. Man begegnet Kämpfern, Tänzern, Arbeiterinnen, Tieren, wirbelnden Formen. Irgendwann rast auch mal ein Bus vorbei. Das Ergebnis ist ein einziges großes Staunen.

Insgesamt zeigten die ausgestellten Arbeiten die große inhaltliche und formale Bandbreite heutiger XR-Kunst. Die Grenzen zum Spiel-, Dokumentar- oder Animationsfilm oder auch zum Videospiel waren fließend. Und genauso zum Theater. So konnten sich die Besucher*innen etwa im Residenztheater über den aktuellen Arbeitsstand der interaktiven VR-Performance Tremens des belgischen Kollektivs „Crew“ informieren. Das Stadttheater Augsburg präsentierte im Forum der Zukunft das immersive VR-Aufbauspiel Ekklesia, bei dem es gemeinsam eine Stadt aufzubauen gilt. Und das Very Theatre aus Taipeh brachte seine Arbeit Free UR Head mit. Bei dem partizipativen Choreografie-Projekt animierte eine Art Vortänzer die mit VR-Brillen ausgestatteten Teilnehmer*innen mit digitalen Mitteln zu einer ungeprobten „Kopf-Choreografie“.

Das Erleben dieser Choreografie war aber nicht nur auf die direkt Teilnehmenden beschränkt. Auch alle anderen, im Forum der Zukunft umherstreifenden Besucher*innen konnten dabei zusehen. Und mitzuerleben, wie etwa 20 Menschen mit VR-Brille ihre Köpfe im gleichen Takt wiegen, das hat etwas Amüsantes, zuweilen aber auch leicht Irritierendes. Wenn man sieht, wie der Vortänzer auf dem Podium die Bewegungen der Menschen „steuert“. Auf jeden Fall machte Free UR Head erfahrbar, wie sich XR für kollektive Erfahrungen nutzen lässt. Genau darum ging es auch bei einem Podiumsgespräch am 4. Juli auf der „Dome Stage“, zu dem als Expert*innen Eric Joris (Crew, Brüssel), Flavia Mazzanti (Immerea, Wien), Tina Lorenz (ZKM, Karlsruhe) und Ilja Mirsky (Residenztheater, München) eingeladen waren.

Die zentrale Frage war dabei: Wie kann XR zu einem „kulturellen und kollaborativen Raum“ werden? Und welche Rolle können Künstler*innen dabei spielen? Mit Luminescence von Anke Schiemann, /p und She’s Excited! wurde kurz darauf noch eine weitere kollektive „Experience“ vorgeführt. Eine immersive „Mixed Reality Music Performance“, die einen zu Live-Musik in eine bunte Unterwasserwelt eintauchen lässt, einen dabei aber auch mit den Folgen der Meeres-Verschmutzung konfrontiert. Für alle, die tiefer in die bayerische XR-Szene eintauchen wollten: Das war danach bei einem von Max Permantier vom FFF Bayern geleiteten Gespräch möglich. Da ging es unter anderem um hiesige „Key Players“, um private und öffentliche Förderung oder die Zukunft von XR in Bayern.

Dass diese Zukunft nicht nur Chancen, sondern auch Risiken bereithält, das war bereits am 2. Juli bei einem Filmtalk mit dem Titel „Realität 2.0 – Filmschaffen zwischen Immersion und Manipulation“ im Amerikahaus zu hören. Auch dieser in Kooperation mit dem Münchner Filmfest organisierte und vom SZ-Journalisten Andrian Kreye moderierte Talk lief unter dem Banner „Munich Beyond“. Wobei es hier kaum um XR, sondern vor allem um KI ging. Dazu eingeladen waren der Hamburger Medienunternehmer und Podcaster Andreas Loff und die Macher des Dokumentarfilms Born To Fake, Erec Brehmer und Benjamin Rost, die sich darin mit dem 90er-Jahre-Skandal um den „Filmfälscher“ Michael Born beschäftigen.

Bei dem Gespräch erwies sich vor allem Erec Brehmer als kritischer Mahner. Er sagte: Der Einsatz von KI im Film sei eine „enorme Revolution“. Denn die dabei erschaffenen Bilder seien irgendwann „Teil der Realität“, sie seien aber Bilder „ohne Haltung“. Ohne Kreativität. Außerdem benutzten Medien wie Galileo bereits „KI-Bilder als Belege“. Und deshalb müssten wir bereits jetzt darüber reden: „Wo sind die Grenzen?“ Und: Wie weit sind wir bereit zu gehen? Wobei er aber auch gestand: Nach ersten eigenen Experimenten sei es bei ihm selbst inzwischen so, dass er sich von KI „gelangweilt“ fühle. „Ich sehne mich nach echtem Leben.“

Sein Kollege Benjamin Rost sah das Ganze ähnlich und hatte dazu auch ein passendes Beispiel parat. Und zwar das von einem chinesischen Paraglider, der angeblich einen neuen Höhenrekord aufgestellt hat. Die Beweisbilder seien erkennbar eine Fälschung und wurden als solche entlarvt. Aber: „Man redet immer noch davon.“ Für großes Aufsehen sorgten auch die KI-Filme, die Andreas Loff in den letzten Jahren gemacht und nun auch in Ausschnitten präsentiert hat. Darunter „Oma, was war nochmal dieses Deutschland“ von 2024, eine Science-Fiction-Dystopie, die eine düstere Zukunft unter rechtsextremistischer Herrschaft zeigt. Und ein ziemlich durchgeknalltes Musikvideo, das er vor ein paar Monaten für DJ Hell und Jonathan Meese kreiert hat.

Für diese Filme habe Loff, so Andrian Kreye, „alles“ aus der KI „rausgeholt“. Also alles, was zum jeweiligen Zeitpunkt möglich war. Wodurch sich hier exemplarisch sehen lasse, wie schnell sich die KI entwickelt. Andreas Loff selbst beschrieb seine Arbeit so: „Zu 50 Prozent Handarbeit. Viel Photoshop. Und nicht nur Prompts.“ Angst vor der KI? Die hat er offenbar nicht. Aber, so Loff: „Ich will auch nichts darstellen, was mit der Kamera geht.“ Stattdessen mache er „meist Science-Fiction“, er versuche „fantastische Dinge zu machen“. Und vielleicht liegt hier auch ein Schlüssel für die künstlerische Zukunft von XR: Neue, eigenständige Welten zu kreieren anstatt „nur“ die Realität zu simulieren. Ein paar der überzeugendsten Arbeiten bei „Munich Beyond“ gingen jedenfalls in diese Richtung.

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Redaktion: Olga Havenetidis
Gestaltung und digitales Storytelling: Schmid/Widmaier

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