Samias
tra­gische
Reise

Auf der Flucht über das Mittelmeer kommen jedes Jahr über 1000 Menschen um. Mit ihrem neuen Kinofilm Samia über eine junge somalische Läuferin geben Yasemin und Nesrin Şamdereli den Geflüchteten ein Gesicht. Nach der Uraufführung und einer Special Mention in Tribeca zeichnete das Publikum beim Filmfest München 2024 den Kinofilm mit dem International Audience Award aus.
von Stefanie Zimmermann
8 Minuten Lesezeit

Fröhlich-aufgeregt blickt Samia Yusuf Omar in die Kameras beim Einmarsch der Athleten und Athletinnen zum Auftakt der Olympischen Spiele in Peking 2008. Stolz trägt die junge Sprinterin die Flagge ihres Heimatlandes Somalia durch die Arena. Vier Jahre später ertrinkt sie im Mittelmeer beim verzweifelten Versuch, mit einem Schleuserboot von Libyen nach Italien zu gelangen. Samia Yusuf Omar wurde nur 21 Jahre alt.

Wer befürchtet, es handle sich bei dem Film um ein gut gemeintes Betroffenheits-Drama, liegt falsch. Spannend, berührend, aber auch humorvoll erzählt der Film Samias Geschichte in ansprechenden Kinobildern (Kamera: Florian Berutti). Die Geschichte beginnt mit der jungen Frau auf der langen Fluchtroute durch die Sahara und blendet zurück zur neunjährigen Samia, die in bescheidenen Verhältnissen in der Geborgenheit ihrer Familie in Mogadischu aufwächst und entdeckt, dass sie schneller rennen kann als alle anderen Kinder. Schnell entwickelt sich daraus ihre Passion für das Laufen, und sie beginnt, mit Hilfe ihres besten Freundes für die Teilnahme am jährlichen Stadtlauf zu trainieren. Doch in den Wirren des somalischen Bürgerkriegs übernehmen bald islamische Extremisten die Macht, Sport ist Frauen und Mädchen nun verboten. Gegen alle Widerstände – und ohne vernünftige Laufschuhe – gibt Samia ihren Traum von einem besseren Leben aber nicht auf, sondern trainiert von nun an heimlich nachts auf dem Sportplatz. Am Ende gewinnt sie nicht nur den Stadtlauf, sondern vertritt als 17-Jährige sogar ihr Land bei den Olympischen Spielen in Peking. Danach haben die Islamisten Samia erst recht im Visier. Die Gängelungen werden so unerträglich, dass sie sich, da sie weder Papiere noch ein Visum besitzt, zur Flucht entschließt. Ihr Ziel: Die Teilnahme an den Olympischen Spielen in London.

Ilham Mohamed Osman spielt Samia

Samias Geschichte klingt fast zu unglaublich, um wahr zu sein. Wie kann es sein, dass eine gefeierte Olympionikin diesen gefährlichen Fluchtweg auf sich nehmen musste?

Das dachte sich auch Yasemin Şamdereli, als sie vor sieben Jahren zum ersten Mal von der Geschichte hörte. „Meine Schwester Nesrin und ich waren zutiefst berührt, und wir wollten alles dafür tun, das auf die große Leinwand zu bringen. Es wurde zu meinem absoluten Herzensprojekt“, erzählt sie im Gespräch.

Produzent*innen der Indyca Film aus Turin hatten sich bei Yasemin Şamdereli gemeldet. Sie hielten die Verfilmungsrechte am Roman „Sag nicht, dass Du Angst hast“ von Guiseppe Catozzella, der Samias Geschichte recherchiert hatte. Schnell war den Italienern klar, dass sich dieser Stoff nur mit internationalen Partner*innen realisieren lassen würde. Als sie über eine deutsche Beteiligung nachdachten, kamen sie auf Yasemin Şamdereli als mögliche Regisseurin. Ihr Film Almanya war sehr erfolgreich in Italien gelaufen und sie ahnten, dass sie eine gute Wahl für dieses Projekt wäre. Zu der Zeit hatten die Şamdereli-Schwestern noch eine gemeinsame Produktionsfirma mit Anja-Karina Richter, die als Produzentin in das Projekt einstieg. „Ich fand es wichtig, die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, auf dem Weg durch Afrika verdursten, misshandelt und erpresst werden, aus ihrer Anonymität zu holen“, betont sie.

Produzentin Anja-Karina Richter

Mit Hilfe der Drehbuch- und Projektentwicklungsförderung des FFF Bayern (Produktionsförderung kam zu gegebener Zeit ebenfalls hinzu) legte das Team los. Drei Jahre später stieß Dietmar Güntsche mit seiner Neue Bioskop Film und dem Verleih Weltkino dazu. Er und Anja-Karina Richter hatten gerade bei der ebenfalls FFF-geförderten Prime-Miniserie German Crime Story: Gefesselt zusammengearbeitet, so kam eins zum anderen. Am Ende wurde Samia als italienisch-deutsch-belgisch-schwedische Koproduktion realisiert. „Es ist ein schöner und wichtiger Film, der auch gut in unser Verleih-Programm passt“, sagt Güntsche. „Ich bin mit eingestiegen, da ich Yasemin für eine ausgezeichnete Regisseurin halte und der Film so ein gravierendes Thema behandelt. Ich finde, dass man sich da klar positionieren muss.“

Produzent Dietmar Güntsche

Yasemin Şamdereli war es wichtig, die Geschichte so authentisch wie möglich zu erzählen. Da die Sicherheitslage in Mogadischu zu riskant war, wich die Produktion nach Kenia und Tunesien aus, wo entsprechende Serviceproduktionen engagiert wurden. Außerdem sollte der Film mit somalischen Darsteller*innen auf Somali gedreht werden. Um die Sprachbarriere zu überwinden, wurde Şamdereli mit Deka Osman eine kompetente somalische Filmemacherin zur Seite gestellt. Sehr aufwändig gestaltete sich die Suche nach den Darsteller*innen. Es gibt zwar somalische Schauspieler*innen, doch die somalische Diaspora ist groß. Die Casting Directors arbeiteten unter anderem mit einer Kollegin in Kenia zusammen, die sich in den dortigen somalischen Communities, in Schulen, Moscheen und Kulturcentern nach geeigneten Kandidaten umsah. So entstand eine gute Mischung aus Laiendarsteller*innen und erfahrenen Schauspieler*innen. Auch die Hauptdarstellerin Ilham Mohamed Osman stand zum ersten Mal vor der Kamera. Ein besonderer Coup ist der Gastauftritt von Waris Dirie, somalisches Model und Menschenrechtsaktivistin (Wüstenblume). „Sie war sofort dabei, als sie von dem Projekt gehört hat und fand es toll, eine Geschichte aus Somalia in ihrer eigenen Sprache zu erzählen“, so Yasemin Şamdereli.

Teile des Films wurden in Apulien gedreht, das sich landschaftlich für die Erzählung eignet und darüber hinaus mit einem Tax Credit von bis zu 70 Prozent lockt. Dort entstand auch die Flucht übers Meer, die die Şamdereli-Schwestern so realistisch wie möglich erzählen wollten. Eine Ausnahmesituation für die Kompars*innen, die zum Teil selbst Fluchterfahrungen gemacht hatten. „Wir stellten ihnen frei, diese Szene zu spielen, es gab auch eine Psychologin am Set. Eine Komparsin hat zuerst bitterlich geweint, wollte es dann aber unbedingt machen und sagte: Ich will, dass die Menschen das sehen. Das hat mich zutiefst beeindruckt“, erinnert sich Yasemin Şamdereli.

Wie war es für sie als Frau in den afrikanischen Ländern zu drehen? „In Kenia völlig unproblematisch, es wird ja viel dort gedreht und sie haben eine tolle Struktur. In Tunesien dagegen taten sich einige Leute schwer damit, dass eine Frau die Ansagen macht“, erzählt die Regisseurin. Gleichzeitig ließe sich aber so auch der Horizont erweitern. Gerade der Kindercast registrierte demnach mit Interesse, dass Frauen auch hinter der Kamera arbeiten.

Die italienische RAI war von Anfang an mit an Bord, die deutschen Sender reagierten dagegen zurückhaltend auf das Projekt, argumentierten etwa mit einem mangelnden Deutschlandbezug. „Ich frage mich dann schon: Hat das wirklich nichts mit uns zu tun?“, wundert sich Şamdereli. Ist sie enttäuscht von dieser Reaktion? Sie denkt kurz nach und sagt dann: „Ich bin den Förderern sehr dankbar. Es ist großartig, dass sie an ein Projekt wie Samia glauben. Dank der Förderer können solche Filme überhaupt erst entstehen. Bei den Sendern würde ich mir noch mehr Vielfalt wünschen. Mehr Stoffe, die auch die Realität der jüngeren Menschen abbildet. Alles hat seine Existenzberechtigung, aber müssen es immer Krimis und Komödien sein?“ Ob die RAI nach den politischen Entwicklungen in Italien auch heute noch in ein Projekt wie Samia einsteigen würde, ist eine andere Frage. Filme mit ähnlicher Thematik, wie Io Capitano sind jedenfalls in Italien bisher sehr erfolgreich gelaufen.

Yasemin Şamdereli mit ihrer Co-Regisseurin Deka Mohamed Osman aus Somalia

Auch wenn es durchaus Mentalitätsunterschiede gab, lief die deutsch-italienische Kooperation gut. „Die Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen von Indyca war eine tolle Erfahrung. Wir waren viel stärker in das Projekt involviert, als wir das am Anfang dachten und agierten auf Augenhöhe“, berichtet Dietmar Güntsche. „Dieser Film ist wirklich ein Produzentenprojekt“, betont auch Anja-Karina Richter. „Wenn nicht alle an einem Strang gezogen hätten, wäre er nicht entstanden. Da steckt viel Idealismus drin, die Italiener sind mit Bürgschaften und Darlehen sogar persönlich ins Risiko gegangen. Bis zum Ende war viel Bewegung in der Finanzierung.“ So kam überraschend eine französische Senderbeteiligung nicht zustande, was zu Abstrichen zwang. Dreharbeiten auf zwei Kontinenten, eine nicht enden wollende Regenzeit und andere Hindernisse galt es zu meistern.

Nach diesem Kraftakt ist den Beteiligten eine gewisse Erleichterung anzumerken. Ihre Nachfolge-Projekte muten im Vergleich zu Samia fast schon entspannt an. Yasemin Şamdereli hat Lust auf eine Komödie. Mit ihrer Schwester entwickelt sie gerade einen Kinofilm (Arbeitstitel: Der Lappen), eine um 1980 im Ruhrgebiet angesiedelte Geschichte, inspiriert von ihrer Mutter, die erst beim neunten Versuch die Führerschein-Prüfung bestand. Auch Dietmar Güntsche produziert eine Komödie: „Ein deutsches Remake des französischen Films Oh la la, den wir hier mit Weltkino ins Kino gebracht haben, mit prominenter Regie. Autoren sind Stefan Holtz und Florian Iwersen.“ Anja-Karina Richter wiederum produziert Das Sams als Animationsfilm für die Tradewind Pictures. „Animation ist für mich noch Mal etwas ganz Neues – und ganz ohne Drehteams“, erklärt sie mit einem scherzhaften Lächeln.

„Jetzt hoffen alle erst einmal, dass Samia möglichst viele Menschen erreicht. Die Publikumsreaktionen auf den Festivals in Tribeca und München waren in diesem Sinne sehr ermutigend“, so Güntsche. In Deutschland startet Weltkino den Film am 19. September in den Kinos. Es folgen Italien und Frankreich, der Weltvertrieb Mk2 hat darüber hinaus schon einige weitere Territorien abgeschlossen. Samias Reise, so scheint es, ist noch lange nicht zu Ende.

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Stefanie Zimmermann
FotosWeltkino
Redaktion: Olga Havenetidis
Gestaltung und digitales Storytelling: Schmid/Widmaier

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