Als Fremder
im Baye­rischen
Wald

Der vom FFF geförderte, preisgekrönte 360-Grad-Film Flucht in die Wälder folgt den Spuren von Siegfried von Vegesack, einem deutsch-baltischen Schriftsteller.
Text von Jürgen Moises
6 Minuten Lesezeit
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Was ist Heimat? Diese Frage haben (sich) schon Viele gestellt. Wobei einem diese Frage interessanterweise meist dann erst in den Sinn kommt, wenn man diese verloren hat oder die Heimat auf irgendeine Art bedroht sieht. Für Siegfried von Vegesack traf zeitweise beides zu. Der 1888 im ehemaligen Livland geborene, deutsch-baltische Schriftsteller verließ 1912 seine erste Heimat und lebte nach Stationen in Heidelberg, Berlin und München von 1918 an in Weißenstein, einem Ortsteil von Regen im Bayerischen Wald. Was Heimat ist? Eine poetische Antwort formulierte Vegesack 1932 in seinem Roman Das fressende Haus: „Heimat ist allüberall, wo Wälder im Winde wehen, wo auf dem Erdenball Liebende unter flammenden Sternen stehen.“ Oder etwas prosaischer: „Heimat ist nirgends und überall.“

Der letzte Satz stammt nicht aus dem Roman, sondern aus dem 360-Grad-Film Flucht in die Wälder von Emil Spiewok. Auch dort spricht ihn der von Robert Mika verkörperte Siegfried von Vegesack. Danach holt der mit Hut, Rucksack und Wanderschuhen bekleidete Schriftsteller eine Hakenkreuzflagge von einem Mast auf der Burgruine Weißenstein ein, drückt sie einem jungen Mann in die Hand und geht davon. Davor konnte man in dem etwas mehr als 20 Minuten dauernden Film eine Art Bewusstseinswandel oder das Reifen einer Entscheidung bei von Vegesack erleben. Dieser lebt mit seiner Familie im ehemaligen Getreidespeicher neben der Burgruine, als im Jahr 1933 dort die Nationalsozialisten aufmarschieren. Vegesack zieht los in den Wald, um seine Seele von dem Spuk zu heilen. In der Nacht kommt es dort zu einer schicksalhaften Begegnung mit einem Fremden.

Was nach dem Entfernen der Flagge geschieht, erfährt man im Film nur in ein paar Sätzen. Siegfried von Vegesack kommt vorübergehend in Schutzhaft und vollendet in kurzer Zeit seinen bekanntesten Roman Blumbergshof, den ersten Teil seiner Baltischen Tragödie. Und das ist genauso wie das Herunterholen der Nazi-Flagge auch tatsächlich so passiert. Auch die Begegnung mit dem Fremden, einem Geflüchteten aus Böhmen, in der Nacht, könnte so passiert sein. Genau weiß man das nicht. „Diese Selbstfindung, diese Entscheidungsfindung-Story, die ist historisch nicht bewiesen“, erzählt der in Regen, München und Seoul lebende Regisseur Emil Spiewok am Telefon. Und dass die Geschichte auf einer Erzählung von Vegesack beruht. Diese heißt wie der Film Flucht in die Wälder und ist in einem Sammelband mit zwei anderen Geschichten zu finden.

Wobei der Film, dessen Produktionskosten vom FilmFernsehFonds Bayern gefördert wurden, deswegen keine Literaturverfilmung ist. So spielt die Erzählung im Gegensatz zum Film im Winter. Und im Vorwort des im Verlag Morsak Grafenau erschienen Bandes heißt es zwar, dass die Geschichte „eigene Erlebnisse des Autors“ enthält. Aber so manches könnte auch ein Traum, eine Fiktion sein, wie es im Text heißt. Hinzukommt, dass im Film auch noch Zitate aus anderen Texten des Autors auftauchen. Wie etwa am Anfang, wo Robert Mika ein Gedicht von Vegesack rezitiert. „Wir haben das ein bisschen gemixt“, sagt Spiewok, und dass es um das sehr aktuelle Thema Flucht gehe. Darum, „an einen fremden Ort zu kommen“. Und die Frage: Was macht einen fremden Ort lebenswert?

Als Fremder, Eigenbrötler, als „g’spinnater Baron“ wurde Siegfried von Vegesack lange auch im Bayerischen Wald wahrgenommen. Manche sahen ihn ihm einen Naturapostel oder weltfremden Eremiten. Für Spiewok ist der 1974 auf Burg Weißenstein verstorbene Schriftsteller aus verschiedenen Gründen eine spannende Figur. Dazu gehört zunächst mal, dass Spiewok selbst in Weißenstein aufwuchs und als Kind an der Burgruine gespielt hat. Hinzu kommt Vegesacks rebellischer Geist, die Tatsache, dass er 1926 am ersten Paneuropa-Kongress in Wien teilnahm und sich auch sonst als überzeugter Europäer zeigte. Außerdem baute er 1924 neben der Burg ein Windrad zur autarken Stromgewinnung. „Im Dorf hatte aber irgendwie keiner Interesse daran“, so Spiewok. Als Kleinstlandwirt und Selbstversorger setzte sich der Schriftsteller zudem für den Naturschutz ein.

Die erste Idee zum Film hatte Spiewoks Bruder Otto, der bei Flucht in die Wälder hinter der Kamera stand. Ein weiterer Anstoß für das Projekt war der Umstand, dass die Dauerausstellung im Museum im „Fressenden Haus“, wie von Vegesack den ehemaligen Getreidespeicher nannte, im Umbau war. Was die Chance bot, den Film „dauerhaft an die Öffentlichkeit zu bringen“, wie der Regisseur erzählt. Genau das ist seit Mai auch Realität. Im dritten Obergeschoss des „Fressenden Hauses“ kann man sich den Film über eine 3D-Brille ansehen, umgeben von Hörstationen, Fotos, Büchern, Dokumenten und skurrilen Objekte aus dem Nachlass der Familie von Vegesack. Im Juni wurde der Film zudem auf mehreren Festivals gezeigt und er hat bei den Milan Independent Awards sowie auf dem Prague Actors and Filmmakers Festival und dem Buffalo Roots Film Festival in Rom jeweils den Award als „Best Virtual Reality“ gewonnen.

Auch sonst seien die Reaktionen, dort, wo er diese mitbekommen hat, „sehr toll“ gewesen. „Ich bin auch glücklich, dass so viel auf den Inhalt eingegangen worden ist“, so der 36-Jährige. „Weil ich sehr oft die Erfahrung mache, dass die Leute bei meinen Projekten immer über die Technik reden“. Zu den VR-Projekten, die er mit seiner 2015 gegründeten Firma Vtopia 360 dreht, gehören vor allem Werbe-, Image- oder Lehrfilme. In Kooperation mit FilmCrew Media aus München hat er aber auch die 2019 fertiggestellte, kürzlich beim Dokfest München gezeigte VR-Dokumentation Crossing Borders über einen Motorradtrip durch Südostasien gemacht. Solche freien Projekte sind natürlich schwieriger zu finanzieren. Vor allem ein Museums- und Festival-Film, der keine großen Erlöse verspricht. Für Spiewok war aber wichtig: „Wir wollten das unbedingt professionell durchziehen und den Leuten eine entsprechende Gage zahlen.“

Dazu gehörte wie gesagt der von TV-Produktionen wie Nackt unter Wölfen bekannte, deutsch-polnische Schauspieler Robert Mika. Aus dem Baltikum hätten sie leider „niemanden gefunden“. Und jemand von den anderen Schauspielern brachte dann, so Spiewok, Mika ins Spiel, der einen osteuropäischen Akzent und zudem eine „ausdrucksstarke Stimme“ hat. Neben einzelnen bekannteren Schauspieler*innen waren aber vor allem regionale Akteur*innen und Laien beteiligt, darunter Mitglieder der Festspielgemeinschaft Kötzing und die frühere Regener Theatergruppe „Schwarzer Leberkaas“. Diese Verortung in Regen, im Bayerischen Wald war Spiewok wichtig. Schließlich war es der Ort, wo Siegfried von Vegesack seine zweite Heimat fand und später zum anerkannten Ehrenbürger wurde. Und es ist auch der Ort, wo man im „Fressenden Haus“ derzeit täglich von 9 bis 16.30 Uhr Flucht in die Wälder sehen kann.

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Jürgen Moises
Fotos: Filmcrew Media
Redaktion: Olga Havenetidis
Digitales Storytelling und Gestaltung: Schmid/Widmaier

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