Die Bergung manch eines Schatzes verlangt von Suchenden, eine Reise auf sich zu nehmen. Besondere Schätze erfordern zudem nicht nur eine Reise durch den Raum, sondern auch zurück in der Zeit. Von einem solchen Schatz und seiner beschwerlichen Suche nach ihm erzählt Julia von Heinz’ neuer Kinofilm, die Literaturverfilmung Treasure. Bei der geschichtsträchtigen Vater-Tochter-Erzählung handelt es sich um die Adaption des 1999 erschienenen Romans Zu viele Männer der australischen Autorin Lily Brett. Das Buch, das die Geschichte einer New Yorker Journalistin erzählt, die gemeinsam mit ihrem Vater beschließt, eine Reise zu den Wurzeln der Familie nach Polen zu unternehmen, wo die beiden von der Holocaust-Vergangenheit eingeholt werden, zählt lange schon zu den Lieblingsbüchern der Filmemacherin Heinz, die zuletzt mit ihrem Spielfilm Und morgen die ganze Welt und der Fernseharbeit Eldorado KaDeWe auf sich aufmerksam machte. Ihre Mutter brachte der Filmemacherin die Romane Bretts nahe, die sich dem dunklen Kapitel der Shoa widmen sowie den familiären Traumata, die sich durch so viele Biografien bis heute ziehen.
Der Humor
bei all
dem Schmerz
Julia von Heinz
Bretts literarischer Ton ist bei aller Themenschwere ein unnachahmlich leichter, bisweilen humorvoller. Die Heldinnen der Autorin sind unverwechselbare Originale wie auch ihre New Yorker Protagonistin Ruth aus Zu viele Männer. „Meine Mutter hat Lily Brett Ende der 80er für sich entdeckt, jedes Buch von ihr gelesen und mir weitergegeben. So wurde ich auch schnell zum Fan. Für mich als Teenagerin war Brett eine völlig neue Stimme. Der Humor bei all dem Schmerz … das war eine unbekannte Kombination“, betont Julia von Heinz im Gespräch über ihre gerade rechtzeitig zur Berlinale fertiggestellte Filmarbeit. Bereits im Jahr 2014 optionierten Heinz sowie ihr Schreib- und Lebenspartner John Quester den literarischen Stoff in der Hoffnung, ihn möglichst bald auf die Leinwand bringen zu können.
Literarische Vorlage für Treasure war der Roman Zu viele Männer von Lily Brett
Treasure beginnt am Warschauer Flughafen im Jahr 1991. Tochter und Vater, gespielt von Lena Dunham und Stephen Fry, sind soeben zeitversetzt voneinander gelandet. Mit ihrer Reise im postsozialistischen Setting beginnt auch eine Reise ins tiefste Innere einer Familie, zu den Punkten ihres größten Schmerzes und ihrer Verletzlichkeit. Die Zuschauer erleben mit Dunham und Fry zwei, die wie gemacht scheinen für ihre Rollen. Von den ersten Momenten des Films wird die Zuneigung der beiden sichtbar, aber auch ihre tiefen Konflikte. Der gravierendste besteht im Wunsch des Holocaustüberlebenden, seine Tochter zeit ihres Lebens vor seinen schrecklichen Erfahrungen während der Naziverfolgung und im Konzentrationslager zu beschützen und fernzuhalten. Bei der Tochter entsteht so jedoch eine Leerstelle, die sie unbewusst mit Ängsten und Obsessionen zu füllen weiß.
Die große Herausforderung des Films bestanden für Julia von Heinz und John Quester darin, die über 700 Buchseiten voller Introspektion der Protagonistin, ihrer inneren Mono- und Dialoge einen prägnanten bildhaften Ausdruck zu verleihen. Der Co-Drehbuchautor Quester hierzu: „Der innere Monolog der Protagonisten ist größtenteils eine Obsession und Beschäftigung mit dem Dritten Reich. In unserem Film tätowiert die von Lena Dunham Gespielte sich selbst die KZ-Nummer der Mutter auf das Bein. Hier geht es um die Identifikation mit den Eltern. Unter der Oberfläche liegt das transgenerationelle Trauma. Die Eltern dieser Familien versuchen ihre Kinder zu schützen, indem so wenig wie möglich erzählen. Sie können aber nicht verhindern, dass so das Trauma durch ihr Schweigen weitergegeben wird.“
Lena Dunham, Julia von Heinz und Stephen Fry
Dass der Vater sich überhaupt zu der Reise zu den Wurzeln der Familie, zunächst nach Warschau, dann nach Lodz hat breitschlagen lassen, scheint an vielen Stellen des Films überraschend. Wo Ruth von Neugierde nach Wissen über die Hintergründe getrieben ist, blockt Edek ab. „Hier gibt es nichts zu sehen“, betont er und besteht zunächst darauf, im Auto sitzenzubleiben, als die beiden von ihrem liebevoll ergebenen Fahrer Stefan (Zbigniew Zamachowski) zum ehemaligen Familien- und Firmensitz der Rothwax‘ gebracht werden. Dass es hier mitnichten nichts zu sehen gibt, wie der Vater zunächst betont, erfahren die Zuschauer*innen bald schon in eindringlichen Szenen, in denen Edek gemeinsam mit seiner Tochter die Räumlichkeiten seines ehemaligen Elternhauses durchschreitet. Untergebracht ist hier nun eine polnische Familie, die den beiden amerikanischen Gästen mit einer Mischung aus Missgunst und Schuldgefühl begegnen. Die Polen sind sich natürlich bewusst, auf enteignetem Besitz zu leben, den die nationalsozialistischen Besatzer Polens polnischen Juden wie der Familie Rothwax weggenommen hatten.
Inspiration für die filmische Reise von Ruth und Edek Rothwax fand das Autorenduo von Heinz-Quester bei einer eigenen Reise durch Polen. Julia von Heinz hierzu: „Nachdem wir den Roman optioniert hatten, haben wir 2015 eine Reise nach Polen unternommen, bei der wir Orte und Stationen besucht haben, die in Lily Bretts Roman zentral sind. Wir haben das Haus, in dem ihr Vater aufgewachsen ist, besucht. Und auch den Friedhof, der im Film vorkommt.“ Die Friedhofszene gehört zu einer der intensivsten in Treasure. Die Zuschauer erleben das Vater-Tochter-Paar beim Identifizieren der Grabstätten von Vorfahren und Verwandten des Vaters. Zum Andenken legt Ruth einen kleinen Stein auf einen der Grabsteine.
„Wir waren schließlich auch an Lily Bretts Geburtsort. Ihre Eltern hatte es als Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz ins bayerische Feldafing verschlagen – als DP. Die Mutter hatte, um Lily Bretts Vater wiederzufinden sämtliche Displaced Person Camps abgeklappert, bis sie ihn wiederfand. Diese Begebenheit machte uns auch klar, dass wir den Bayerischen Rundfunk und den FFF Bayern mit an Bord bringen mussten.“
Der Gang von Vater und Tochter zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau stellt den schwierigsten Teil ihrer Reise dar, die Szenen sind auch das Schwerkraftzentrum des Spielfilms Treasure. Die dort vor Ort entstandenen Szenen sind keine filmische Selbstverständlichkeit, wie Produzent Fabian Gasmia, mit dem von Heinz 2017 die gemeinsame Produktionsfirma Seven Elephants gründete, betont: „Es war uns wichtig, den Film nach Auschwitz, an den Ort des wirklichen Geschehens zu bringen. Vorab war uns bewusst, dass eine Drehgenehmigung fast ein Ding der Unmöglichkeit sein würde. Wir haben dennoch einen Brief an das dortige Memorial geschrieben. Von der Stelle erhielten wir schließlich die Gelegenheit, unser Vorhaben genauer darzulegen.“ Entstanden sind so Szenen, die am Lagereingang spielen, am Zaun der bedrückenden Stätte entlangführen. Schließlich gab es Grenzen beim Dreh. Julia von Heinz zufolge war sich das Filmteam dieser allzu deutlich bewusst. „Man muss sich vorstellen, dass die menschliche Asche, die Tag und Nacht aus den Schornsteinen regnete, dort noch liegt. Ganz Auschwitz ist ein großer Friedhof.“ Aufnahmen, die auf dem Gelände spielen, mussten so mithilfe von VFX-Technik nachgestellt werden. Für die Szene, die in den Ruinen der ehemaligen Gefangenenbaracke von Edek spielt, war es von Heinz und ihrem Team wichtig, sie in der Nähe der Erinnerungsstätte aufzunehmen und nicht in einem Studio in München oder Berlin. Atmosphärisch merkt man dies dem Film an, auch von den ungeheuren Dimensionen des Vernichtungslagers erhalten Zuschauer einen erschütternden und bleibenden Eindruck.
Uraufführung in der Reihe Special Gala bei der Berlinale 2024: Lena Dunham, Stephen Fry, Julia von Heinz, Lily Brett und Zbigniew Zamachowski
Dass ein Film wie Treasure mit seiner tiefschürfenden Thematik einen überzeugenden Cast benötigen würde, davon waren von Heinz und ihr Filmteam von Beginn an überzeugt. Um an ihre Idealbesetzung für die Protagonistin Ruth zu gelangen, nutzte die Regisseurin den Schwung, den sie aufgrund ihres bei den Filmfestspielen von Venedig gefeierten Und morgen die ganze Welt hatte. In einem Interview mit dem Branchenmagazin Variety tat von Heinz kund, dass sie als nächstes Projekt eine Verfilmung des Lily Brett-Romans Plane, mit Lena Dunham in der Hauptrolle. Die Schlagzeile hierzu schrieb sich fast von selbst. Und die Künstleragentur CAA, die zu dem Zeitpunkt sowohl die Regisseurin als auch Dunham unter Vertrag hatte, stellte sicher, dass Dunham das Drehbuch zu Treasure auch wirklich zu lesen bekam. Kurz darauf sagte die US-Schauspielerin, die erst später, während der Dreharbeiten erfahren sollte, dass auch ihre jüdische Familie aus Lodz stammt, das Projekt zu.
Angesichts der Ereignisse vom 7. Oktober, den mörderischen Angriffen der radikalislamischen Hamas auf Israel, könnte die Thematik des transgenerationellen Traumas jüdischer Familien in Treasure dringlicher kaum sein, befand übereinstimmend das Filmteam und drängte auf einen früheren Veröffentlichungstermin als ursprünglich gedacht, im April 2024. „Wir haben das Projekt bei der Berlinale nachgereicht, weil es durch das aktuelle Geschehen umso mehr an der Zeit war, an das Vergangene zu erinnern“, stellt Julia von Heinz fest. John Quester setzt hinzu: „Das Thema hat eine bedrückende Aktualität bekommen. So traurig das ist. Unsere Erzählung hat einen universellen Kern. Das transgenerationelle Trauma ist etwas, das sich in vielen Zeiten und Kulturen ereignet.“
Das Geheimnis, der Schatz, um den die eindringliche Vater-Tochter-Geschichte Treasure kreist, sei an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Es mag auch nur auf den ersten Blick auf die Maße der Blechkiste passen, die Ruth auf dem Rücksitz des polnischen Automobils in Händen hält. Da ist nicht Nichts, wie der Vater an einer früheren Stelle des Films betont. Wenn wir Zuschauer in dem Moment in die Gesichter der beiden Darsteller Dunham und Fry blicken, wissen wir, hinter dem Unausgesprochenen steht immer mehr. Viel mehr. Vielleicht alles.
Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Chris Schinke
Fotos: FilmNation/Bleecker Street/Annew Wilk, Peter Hartwig, Suhrkamp Verlag,
Seven Elephants/ Julia Terjung, Berlinale
Redaktion und digitales Storytelling: Dr. Olga Havenetidis
Gestaltung: Schmid/Widmaier