Der Mensch
werden, der man
sein möchte

Der FFF-geförderte Dokumentar­film Wo/Men von Kristine Nrecaj und Birthe Templin (Filmkantine) taucht ein in die Tradition der Burrneshas: Frauen in Albanien, die sich aus unter­schiedlichen Gründen entscheiden, den Rest ihres Lebens als Männer zu verbringen. Sozial vollständig akzeptiert, beginnen sie zu denken, zu sprechen und sich zu verhalten wie Männer. Im Laufe der Jahre sind manche von ihnen äußerlich kaum noch als Frauen zu erkennen. Der Film startet am 15. Mai 2025 im Verleih von Missing Films in den deutschen Kinos.
Text von Anna Steinbauer
6 Minuten Lesezeit
(c) missingFILMs
F

Frei um jeden Preis: In Albanien gibt es die jahrhundertealte Tradition der Burrnesha. Das sind Frauen, die innerhalb der Familie die soziale und gesellschaftliche Rolle eines Mannes erfüllen. Sie entscheiden sich bewusst dafür, mit der Männerkleidung auch alle männlichen Rechte und Pflichten zu übernehmen. Innerhalb der Dorfgemeinschaft werden Burrnesha vollständig akzeptiert. Auf dem Land war das Leben als Burrnesha früher die pragmatische Reaktion auf die Notwendigkeit, Nachfolge und Bestand der Familie zu sichern, wenn es keinen männlichen Nachkommen gab. Für Frauen im Balkan sei es oft der einzige Weg, gewesen, einer ungewollten Heirat zu entgehen oder als Familienoberhaupt gelten zu dürfen, erzählen Kristine Nrecaj und Birthe Templin. In ihrem FFF-geförderten Dokumentarfilm Wo/men gehen die beiden Filmemacherinnen dem sozialen Phänomen nach, brechen Geschlechterstereotype auf und begeben sich tief in die albanischen Berge, wo heute nur noch wenige Burrnesha leben. Sechs davon haben sie für ihren Film interviewt.

(c) missingFILMs

Bedri

Gleich zu Beginn wird der*die Zuschauer*in mitten ins Gespräch mit Lumturje geworfen. Lumturje trägt einen burschikosen Haarschnitt, einen schwarzen Kapuzenpulli und Arbeiterhosen mit Taschen an den Seiten. Zwischendurch sieht man Lumturje beim Holzhacken, später auch eine Zigarette nach der anderen rauchend in einer Bar, in der sich ausschließlich die Männer des Dorfes treffen. Was es denn bedeute, eine Burrnesha zu sein, hört man die Filmemacherin aus dem Off fragen. „Stark und unabhängig zu sein und wie ein Mann in den Bergen, im Wald und mit den Tieren zu arbeiten“, erwidert die Burrnesha. Sie hätte schon immer so gelebt, könne kommen und gehen, wie es ihr passe. Dann denkt Lumturje kurz nach und sagt nach einer Pause: „Das Leben ist einfacher so.“

Vor dem Gesetz sind Frau und Mann heute zwar gleich, aber die die gesellschaftliche Realität in der albanischen Provinz sehe noch immer anders aus, sagt Nrecaj. Der Regisseurin hat albanische Wurzeln und wuchs selbst in einer patriarchalen Struktur auf, in der ihr früh die unterschiedliche Wertigkeit von Mädchen und Jungen bewusst wurde, wie sie im Zoom-Interview erzählt. Die Burrnesha-Tradition ist auch Teil ihrer eigener Familiengeschichte: Nrecajs Großtante lebte als solche und ihr Schicksal – sie kam bei einer Blutsfehde um – löste die Flucht der gesamten Familie von Albanien in den Kosovo aus. Templin, die durch eine Fotoausstellung über Burrnesha mit der Thematik in Berührung kam, war sofort fasziniert von dieser Lebensweise. Über eine gemeinsame Freundin trat sie in Kontakt mit Nrecaj, die gerade an einem fiktionalen Stoff über eine Burrnesha schrieb. Daraufhin begann vor neun Jahren ihre gemeinsame Arbeit an dem Filmprojekt.

(c) missingFILMs

Marta mit den Kindern ihrer Geschwister

Wo/men ist ganz nah dran an seinen Protagonist*innen, die sehr persönliche Einblicke in ihre Erfahrungen und ihren Alltag geben. Kontrastiert werden die Interviews durch Aufnahmen unberührter, verschneiter Berglandschaften oder steiniger Einöde mit kleinen Holzhütten, die die Weite und Abgeschiedenheit der Region symbolisieren. „Das ist natürlich auch ein einsamer Lebensweg, den man als Burrnesha einschlägt“, begründet Nrecaj die Entscheidung, das Geschehen nicht genauer zu verorten. Besonders wichtig war es den beiden Regisseurinnen auch, mehrere Burrnesha zu zeigen:

„So verschieden die einzelnen Figuren sind, so individuell sind auch ihre Lebenswege und Entscheidungen.“

Wie unterschiedlich die Beweggründe für ein Leben in der Männerrolle sind, zeigt der Dokumentarfilm anschaulich: Während bei Diana – stets mit Barett auf dem Kopf und einem markigen Spruch auf den Lippen – schon vor ihrer Geburt klar war, dass sie den toten Bruder ersetzen sollte, entschied sich Sanie, die von ihrem Vater als Junge erzogen wurde, erst endgültig in der Pubertät dafür, als Burrnesha zu leben. Oftmals hatten die Frauen keine Wahl: Auch Gjystina und Marta übernahmen die Position des männlichen Nachfolgers, weil die Familien auf ihre Hilfe angewiesen waren. Bedri, der stets eine Kippe im Mund hat und sich vom Neffen Onkel nennen lässt, spürte hingegen schon als Kind deutlich die Restriktionen gegenüber Frauen und zog ein selbstbestimmtes Dasein als Mann vor.

(c) missingFILMs

Sanie

Offen und sehr berührend sprechen die Protagonist*innen über ihre Biografien, die Sehnsucht nach Freiheit und die Überschreitung gesellschaftlicher Normen. Die Tatsache, dass Kristine und ihr Bruder Alfred Nrecaj, der die Kamera führte, Albanisch sprachen, öffnete dem Filmteam so einige Türen. „Wir wollten nicht von außen über Menschen sprechen, sondern mit ihnen,“ erklären die Regisseurinnen ihren filmischen Ansatz, der die Gefahr der Verletzung der Privatsphäre und die Ausbeutung der Menschen und ihrer Schicksale auf Kosten des Westens stets kritisch mitdenkt. Den Burrnesha stellten sie Großteils die gleichen Fragen, um eine universellere Aussage treffen zu können. „Wir wollten, dass der Zuschauer die Schubladen Mann und Frau loslässt und feststellt: In meinem Leben geht es auch um die Liebe, Gewalt und Freiheit“, so Templin.

(c) missingFILMs

Diana

Äußerlich sind die Burrnesha im Film kaum als Frauen zu erkennen, ihre Körperhaltung und ihr Verhalten sind schon fast klischeehaft männlich. Ist die albanische Tradition der Beweis dafür, dass die Gesellschaft einen zum Mann oder zur Frau macht? „Wir waren so fasziniert davon, dass der Verstand so eine Macht hat, dass man der Mensch werden kann, der man sein möchte“, sagt Templin. „Judith Butlers ‚Geschlecht ist ein Konstrukt‘ hat sich für uns ganz unspektakulär in den albanischen Bergen gezeigt.“ Die Frage nach der Sexualität klammerten sie und ihre Kollegin bewusst aus. Denn für die Burrneshas ist ihr Weg kein Ausdruck sexueller Orientierung, sondern eine soziale, ökonomische oder familiäre Notwendigkeit. Das eigentliche Thema des Films formuliert Nrecaj so:

„Es geht um die Wut und Traurigkeit darüber, dass das weibliche Prinzip dem männlichen unterstellt ist, weniger Wert ist und belächelt wird.“

Gegen Ende begleitet der Film Burrnesha Diana auf eine Demo und eröffnet eine größere gesellschaftliche Perspektive auf Emanzipation und Gleichberechtigung. Da gebe es auch in der Filmbranche noch einiges zu tun, in der große Budgets oftmals an Männer gehen und Filme von Frauen auf Festivals immer noch unterrepräsentiert sind, findet Nrecaj. Sie will all ihre Kolleginnen zum Filmemachen ermutigen, auch wenn es oft ein anstrengender, nicht unbedingt familien­freundlicher Beruf ist: „Nicht aufgeben und dranbleiben, wir brauchen weibliche Perspektiven auf der Leinwand!“

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Anna Steinbauer
Fotos: missingFILMs
Gestaltung: Schmid/Widmaier

Zum nächsten Artikel

Straight
Outta
Kempten