„Frisch ist
eine Marke“

Einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur, einer der vielleicht am schwersten zu verfilmenden Romane – den FFF-geförderten Kinofilm Stiller wird Studiocanal in diesem Jahr herausbringen. Als bayerische Produktionsfirma ist Walker + Worm Film beteiligt.
Text von Christoph Oellers
9 Minuten Lesezeit
(c) Studiocanal GmbH Marc Reimann

Stiller nach dem Roman von Max Frisch. Das sind 93 Minuten netto Spielfilm für 448 Seiten Buch. Nach fast einer Stunde bricht ein Spätherbstgewitter über den Zürichsee hinein, überrascht ein gedeihendes Heteropaar beim sparsamen Picknick im Biergarten. Sie solle die alte Geschichte vergessen, rät noch der Mann. Sie flüchten unter eine bereits dem Laub ledige Platane. „Und jetzt?“, fragt der naturgeduschte Mann. „Komm mit!“, sagt die ebenso durchnässte Frau. Im Bett ihres Hotelzimmers fragt sie, was für eine Narbe er über dem rechten Ohr habe. Er erzählt von einer Höhlenerkundung in New Mexico mit einem Freund gleichen Namens, die nach drei Tagen in einem tödlichen Kampf endete. Wie tollwütige Tiere sei man aufeinander los.

An der Oberfläche ist dieser Film wie das Frischbuch ein Kriminalfall um einen Mörder / Nichtmörder, einen Passschwindler und mutmaßlichen Geheimagenten Anfang der 1950er-Jahre, der sechs Jahre untergetaucht war, „verschollen seit Januar 1946“, wie es im Roman heißt. Der Mann wird beim Grenzübertritt in die Schweiz festgenommen, Staatsanwalt und Verteidiger schalten sich ein. In Wahrheit geht es um die Frage, warum jemand nicht zu sich findet, warum jemand nicht mehr Ich im Alltagsschatten sein will, vor sich flieht, zu seinem vermeintlich eigentlichen Ich im Licht uneingeschränkter Freiheit vorstoßen will. „Ich ist ein anderer“. Arthur Rimbauds Diktum liegt 150 Jahre, der dem Buch vorangestellte Satz von Philosoph Sören Kierkegaard („indem die Leidenschaft zur Freiheit in ihm erwacht […], wählt er sich selbst […]“) 180 Jahre, Platons Höhlengleichnis 2400 Jahre zurück.  Demgegenüber steht die These des Soziologen Theodor Adorno von 1951, also aus der Zeit von Frischs Roman, dass es bei vielen Menschen bereits eine Unverschämtheit sei, wenn sie Ich sagen.

(c) Studiocanal GmbH Marc Reimann

Der FFF Bayern zu Besuch am Set von Stiller (v.l.): Tobias Walker, Philipp Worm, Stefan Haupt, Paula Beer, Stefan Kurt, Judith Erber, Carlos Gerstenhauer.

Jahrzehntelang galt Stiller als nicht verfilmbar. Es fehlte offenbar eine zündende Idee, wie das Problem der zwei Figuren in einer Person filmisch gelöst werden sollte. Frisch selbst hätte es gerne gesehen, wenn sich das italienische Weltkino der Sache angenommen hätte: Luchino Visconti, der Thomas Manns Tod in Venedig oder Giuseppe Tomasi di Lampedusas Gatopardo grandios verfilmte, sollte Regie führen, Marcello Mastroianni Stiller verkörpern. Darauf jedenfalls ist Regisseur Stefan Haupt gestoßen, als er für den Film recherchiert hat. Es ist zweifellos ein Herzensprojekt von ihm, dem gebürtigen Zürcher.

„Am Zürichhorn bin ich aufgewachsen, da habe ich gespielt“, sagt Haupt. Kleine Pause. „Wie Frisch 50 Jahre zuvor.“ Am Zürichhorn spielen zentrale Stellen des Films, zentrale Begegnungen zwischen Stiller/White und Julika – wie die Gewitterszene unter der Platane. Ende der 1980er-Jahre war es Haupt schon um Stiller gegangen. Er war Chorleiter und wollte die Höhlengeschichte in einem experimentellen Chorkonzert erzählen. Der Verlag hatte abgelehnt, Frisch hob den Daumen, nachdem sich die beiden getroffen hatten. Und jetzt hat Haupt über eine Generation später in dieser Erstverfilmung des Romans unter anderem mittels raffinierten Flashbacks und wechselnden Farbtönen eine kongeniale Lösung gefunden für das Spiel mit der doppelten Identität und ihrem janusköpfigen Wesen.

Der Anstoß zum Film kam von Haupt und von Anne Walser, der Geschäftsführerin der Schweizer Produktionsfirma C-Film. Sie war es, welche die Rechte von Suhrkamp einholte und das Einverständnis der Max-Frisch-Stiftung sicherte. Das Projekt sei jedoch viel zu groß gewesen, um es allein zu stemmen. Man entschied sich zunächst, auf Hochdeutsch zu drehen. Um in Deutschland möglichst starke Unterstützung zu erhalten, verständigte sich Walser mit Walker + Worm Film, dem Münchner Produzentenduo Tobias Walker und Philipp Worm, auf eine 50:50-Beteiligung. „Normal macht man das nicht, normal hat einer den Lead“, sagt Walser. So aber konnten insgesamt sieben Millionen Euro Fördergelder in beiden Ländern locker gemacht werden. Der FFF Bayern hat 750 000 Euro beigesteuert.

Die Romanvorlage ist 1954 erschienen. (c) Suhrkamp Verlag

Philipp Worm und Tobias Walker teilen sich im Rückgebäude eines Altbaus in der Münchner Maxvorstadt einen großen Schreibtisch, auf dem man auch Pingpong spielen könnte. Bildschirme, Rechner, zwei Wasserflaschen und einmal Champagner türmen aus der zur Tischmitte hin hügelig werdenden Päckchen-, Skripte-, Bücher-, und Stiftelandschaft. An der Wand zeugen die Plakate zu Was Marielle weiß und Sisi & Ich von jüngsten beziehungsweise jüngeren Erfolgen der 15-jährigen Unternehmensgeschichte. Beide Produzenten sind bereits mit dem nächsten Großprojekt beschäftigt, mit der nächsten Literaturverfilmung – Eurotrash von Christian Kracht. Krachts Gattin Frauke Finsterwalder führt Regie und die Kolleg*innen von C-Film sind wieder mit im Boot. „Das ist immer eine sehr angenehme, reibungslose, im besten Sinn produktive Zusammenarbeit mit denen“, sagt Worm. Wie Walser in der Schweiz erkennt er in Deutschland großes Stiller-Potenzial. „Frisch ist eine Marke.“ Er sei noch immer in den Schulen präsent und Stiller sei obendrein sein bekanntestes Werk. „Jeder kennt doch wenigstens den Eingangssatz: Ich bin nicht Stiller!“ Worm hat Stiller zu österreichischen Schulzeiten gelesen, Walker aus eigenem Interesse als Teenager. „Ich sehe die Frage nach der eigentlichen Identität als aktueller denn je an – gerade im Zeitalter von Virtual Reality und Social Media, wo man sich seine ideale Identität auf Instagram postet“, sagt er. Auch die Frage nach dem Verhalten als Mann sei damals wie heute Thema. Der Mann nach MeToo, der Mann und sein Verhalten Frauen gegenüber. Einmal zitiert der Film aus dem mittlerweile fünften Notizheft des Gefangenen White zu seinem alter Ego Stiller. Verteidiger und Staatsanwalt beraten über den Fall, sind ratlos, weil die Ermittlungen stocken. Der Verteidiger sieht im Geschriebenen „lauter Märchen“, der Staatsanwalt übernimmt und trägt vor:

„Er hat wenig Freunde unter Männern. Er kommt sich selbst nicht als Mann vor unter ihnen. In seiner Grundangst nicht zu genügen und als Mann zu versagen, hat er eigentlich auch Angst vor den Frauen.“  Der Staatsanwalt schenkt sich Whiskey ein. „[…] denn nähme er ihre Liebe wirklich ernst, so wäre er genötigt, sich selbst anzunehmen – davon aber ist er weit entfernt!“

(c) Christoph Oellers

Die Produzenten Philipp Worm und Tobias Walker in ihrem Büro in der Münchner Maxvorstadt.

Walker + Worm sind in das Projekt eingestiegen, als es schon eine Drehbuchfassung gab und wesentliche dramaturgische Entscheidungen gefallen waren. Drehbuchautor Alex Buresch sagt: „Wir wollten die Rolle der Frauen stärken, wir wollten uns auf das Paar Stiller / Julika konzentrieren, wir wollten keine Offstimme, die Tagebuchstellen oder innere Monologe spricht und wir wollten ein anderes Ende.“ Im Buch hat der Staatsanwalt mit einem sehr düsteren Kapitel das letzte Wort. Dieser lange Epilog ist erst im Nachgang entstanden, weil der Suizid der Hauptfigur in der Urfassung Bauchschmerzen bei Freund, Lektor und Verleger Peter Suhrkamp hervorrief. Suhrkamp ist das Buch gewidmet. Stefan Haupt wiederum glaubt, dass das jetzt im Film gefundene Ende Werk und Autor sehr gerecht werde. „Es passt zu Frisch und es passt zur heutigen Zeit.“

Mit dem Einstieg von Walker + Worm Film war klar, dass die beiden Hauptrollen von Schauspielern aus Deutschland gespielt werden. „Wir haben uns sehr schnell auf Albrecht Schuch als Hauptdarsteller verständigt“, sagt Worm. Das Casting hat die große und international geschätzte Simone Bär verantwortet, die im Januar 2023 noch vor Beginn der Dreharbeiten gestorben ist. Im Casting für die weibliche Hauptrolle kristallisierte sich rasch Paula Beer als die Person heraus, die am besten mit Schuch harmonierte. Die beiden haben bereits in der zweiten Staffel von Bad Banks zusammengearbeitet.

Das Team hat Ende 2023 an 31 Tagen in Davos, Zürich und München gedreht. Fünf Szenen wurden im supermodernen Hyperbowl-Studio in Penzing am Lech kreiert, das seit 2020 besteht. Fünf Szenen an einem Tag. „Normalerweise schafft man zwei am Tag“, sagt Kameramann Michael Hammon. Obendrein war für ihn viel Neuland dabei. „Vor allem die Spiegelungseffekte der Autos sind tückisch.“ Dank der akribischen Vorbereitung im Verein mit Stefan Haupt gelang es – „sogar ohne große Überstunden“. Am Ende des Tages waren zwei Taxifahrten in Zürich und von Davos weg, zwei surreal anmutende Szenen im Oldsmobile 1950 in wüstiger USA sowie der Kampf in der Höhle zwischen den beiden Stillers im Kasten. Diese Szene hat den letzten Schnitt, den Picture Lock nicht überlebt. Die Gründe liegen darin, dass man die Vorstellungskraft der Zuschauer*innen mit all ihrer je eigenen Emotionalität und subjektiven Wahrnehmung ansprechen und sie nicht vor ein Bilderrätsel, vor eine weitere Denksportaufgabe – wer ist denn hier eigentlich wer – stellen will. Auf der Tonspur ist die Höhle noch präsent.

(c) Studiocanal GmbH Aliocha Merker

Neben Paula Beer (Headerbild oben) spielt Albrecht Schuch die Hauptrolle.

Buresch sieht im Schnitt die letzte Instanz. „Das Drehbuch wird im Schnitt fertiggeschrieben.“ Die Münchnerin Franziska Köppel ist die Editorin und versteht sich als Künstlerin, weit weg von der klassischen Dienstleistung Schnitt. „Man nimmt ganz, ganz viel Einfluss, man ist dramaturgisch wichtig.“ Vom ersten Drehtag an war sie dabei. Fünf Monate hat sie insgesamt an dem Film gearbeitet – stets eng mit Regisseur Haupt. Sie hatte einen besonderen Blick auf die Dinge – sie war die Jüngste im Team, sie war diejenige, die als einzige vorab nicht den Roman gelesen hatte, ihn nicht aus frühen Lesetagen kannte. „So war ich Kontrollinstanz für all die Zuschauer*innen, die ohne Vorwissen in den Film gehen.“ Drei Monate ließ sie den Film ruhen, um im vergangenen Sommer die finale Fassung zu erstellen. „Mit frischem Blick.“ Vor allem mit der Musik sei noch viel gemacht worden, es seien aber auch Szenen umgestellt, gekürzt oder weggelassen worden. Eine Situation beim Zahnarzt zum Beispiel ist nach vorne gewandert, obgleich sich die Passage im Buch erst ziemlich weit hinten abspielt (Beginn des siebten und letzten Notizheftes). Köppel musste harte Entscheidungen treffen, die auch ihre Lieblingsszenen zwischen Stiller/White und Gefängniswärter Knobel betrafen. Um persönliche Vorlieben sei es nun mal nicht gegangen, sondern um das Bestmögliche für den Film. Und da seien sich alle im Team einig gewesen. „So blieb ganz viel Raum für Kreativität – trotz des Drucks, den wir hatten.“  Sie ist überzeugt, „dass uns die Balance aus Liebe, Beziehung, Identität gelungen ist.“ 

Im Herbst bringt Studiocanal Stiller in die deutschen Kinos. „Die Vorweihnachtszeit ist die beste Kinozeit“, sagt Produzentin Anne Walser. Zuvor wird der Film auf mehreren internationalen Festivals Welt- wie Länderpremiere feiern.

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Christoph Oellers
Fotos: Studiocanal GmbH Marc Reimann Aliocha Merker, Christoph Oellers
Redaktion und digitales Storytelling: Olga Havenetidis
Gestaltung: Schmid/Widmaier

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