Wenn das
Gefühl die
Wirklichkeit
erreicht

Matthias Glasners FFF-geförderter Film Sterben erlebte seine Uraufführung im Wettbewerb der 74. Berlinale 2024 und gewann den Silbernen Bären für das Drehbuch. 180 Minuten Minuten über das Leben im Angesicht des Sterbeprozesses. Von großer Bedeutung ist die Musik, komponiert vom in Würzburg geborenen Musiker Lorenz Dengel.
von Olga Havenetidis
7 Minuten Lesezeit
Copyright: Jakub Bejnarowicz, Port au Prince, Schwarzweiss, Senator 2024
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Es dauerte nicht lange, da wurde diese eine Szene zu einem Erlebnis, das viele vereinte. Es war der Sonntag, am ersten Festivalwochenende der Berlinale. Die Premiere um 18 Uhr war sowieso schon ewig ausverkauft, anscheinend wurde niemand krank, änderte niemand seine Pläne, das andauernde Klicken im Webshop brachte nichts: „Ausverkauft“. Bis irgendwann klar war, so, das wird nichts mehr, es geht gleich los, und das wohl ohne mich. Und das, wo doch bei so vielen anderen Premierentiteln immer wieder immer noch was frei wird.

Ebenfalls voll besetzt war der Berlinale Palast am Vormittag, 11:15 Uhr, zur Pressevorführung. Und das nach Samstag Nacht, und das bei 180 Minuten Dauer. Und das bei dem Titel: Sterben.

Und danach ging es zur Pressekonferenz, die mehr als eine Stunde dauerte. Wer sich also am Sonntag Mittag für diesen Film entschieden hatte, war, die morgendliche Platzsuche im Berlinale Palast und den

Photo Call vor der Pressekonferenz

Copyright: Julian Mathieu / Port au Prince

hineingerechnet, viereinhalb, wenn nicht fünf Stunden mit der Recherche befasst.

12 Jahre sind vergangenen seit dem letzten Kinofilm von Matthias Glasner. Gnade war das, 2012 im Wettbewerb der Berlinale, nachdem Der freie Wille, ebenfalls dort, 2006 großes Aufsehen erregt hatte. Wer die Projekte dieses Autor und Regisseurs über die Jahre verfolgt hatte, auch die TV-Projekte, die zwischen den Kinofilmen entstanden sind, etwa Blochin, KDD Kriminaldauerdienst, Tatort: Die Balade von Cenk und Valerie, Polizeiruf 110: Demokratie stirbt in Finsternis, Das Boot und den FFF-geförderte Zweiteiler Landgericht, wollte wissen, was es mit dem Sterben auf sich hat, wollte erfahren, was von Matthias Glasner zu lernen ist, denn zu lernen gibt es immer etliches aus diesen Filmbildern.

So waren also Pressevorführung, Pressekonferenz und die Premiere angefüllt mit einem hochinteressierten Publikum, und dies wurde vereint durch diese eine Szene, die vortan die Runde machte.

Darin führen Mutter, gespielt von Corinna Harfouch, und Sohn, gespielt von Lars Eidinger, ein Gespräch. Dem voraus geht die Beerdigung des Vaters, die der Sohn verpasst hat. Das Gespräch bei Kaffee und Kuchen ist also so eine Art Leichenschmaus. Es dauert mehr als 20 Minuten, wie bei der Pressekonferenz zu erfahren ist, wo zwar alle diese Szene gesehen hatten, jedoch nicht unbedingt eine so enorme Dauer wahrgenommen hatten, atemlos, wie dabei zugesehen und zugehört werden konnte. Es geht darin um den Sohn, der die Mutter wohl nie mochte, was daran läge, wie die Mutter sagt, dass sie ihn ja auch nicht mochte.

Auf dieser Basis von Emotion und Kommunikation entfaltet sich ein Gespräch, wie es selten auf der großen Leinwand zu erleben ist. Dieser Dialog war, so sagten es Corinna Harfouch und Lars Eidinger bei der Pressekonferenz, nicht geprobt gewesen. Es habe auch keine Leseprobe gegeben. Weder für diese noch für eine andere Szene. Aber bei dieser Szene wurde während der Konferenz durchexerziert, wie das Auslassen einer Vorbereitung zur Qualität beitragen, ja, sie überhaupt erst herstellen kann. Wie schon im FFF-geförderten Dokumentarfilm Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein von Reiner Holzemer macht der Schauspieler auch jetzt deutlich, was für ihn das Spielen bedeutet. Im Dokumentarfilm hatte er gesagt, er würde nie für sich allein eine Szene proben, er brauche dazu zwingend all die anderen, die mitspielen. Nun sagt er wieder, keine Probe, keine Vorbereitung, er setze sich aus in so einem Dialog. Sie hätten den Dialog direkt und ohne Probe gedreht, und als er den Film vor zwei Wochen erstmals gesehen habe, sei ihm der Eindruck gekommen, dass vieles aus dem ersten Take im fertigen Film gelandet sei. „Alles“, sagt daraufhin Matthias Glasner. Die Unmittelbarkeit und Spontaneität, die Wirkung von schmerzhaften Sätzen beim ersten Mal Hören, waren offenbar stärker als die Wiederholungen. Auch Corinna Harfouch sagt, sie wollte in der Vorbereitung ganz im Ungefähren bleiben. Wir sehen bei diesem Gespräch Impulsives, Spontanes, fast wie in einem Dokumentarfilm. Improvisiert ist nichts, das Drehbuch war fundamental.

Dieses zeichnete die internationale Jury unter dem Vorsitz von Lupita Nyong‘o mit dem Silbernen Bären aus.

Copyright: Ali Ghandtschi / Berlinale 2024

An Matthias Glasner überreicht hat den Preis Oksana Zabuzhko. Dies sei ein Film über die Ursache von Zerstörung: ein Film über fehlende Empathie und fehlende Liebe. Er sei aber mit sehr viel Liebe gemacht, sagte der Autor, Regisseur und auch Produzent des Films in seiner Dankesrede.

Das Drehbuch schrieb er in einem Kaffee im Prenzlauer Berg, seine Tochter war gerade erst geboren, seine Eltern gerade erst gestorben, „nach langem Leiden“, wie er in der Director‘s Note für das Presseheft schreibt. Ausgelöst durch diese Situation beginnt er zu schreiben, erst über seine Eltern, dann auch über sich selbst, weil es nicht anders geht. „Und dann plötzlich über alles. Über das ganze Leben, so, wie ich es kannte, bevor ich eine neue Familie fand. Und zwar genau so.“

Einige Jahre später steht Matthias Glasner mit seinen beiden Co-Produzenten und dem Ensemble, das seine Familie darstellt, beim Photo Call der Berlinale.

Copyright: Julian Mathieu / Port au Prince

Einige Szenen seien aus dem Gedächtnis geschrieben. Zum Beispiel die Szene, in der Vater, Mutter, Sohn im Zimmer des Vaters im Pflegeheim sind, hätte sich genauso abgespielt. „Diese Szene habe ich eins zu eins zu erlebt, es war das letzte Mal, das ich meinen Vater gesehen habe.“ Corinna Harfouch als Mutter und Hans-Uwe Bauer als Vater seien sehr nah dran an seinen Eltern.

Copyright: Jakub Bejnarowicz, Port au Prince, Schwarzweiss, Senator 2024

Die Figuren von Lars Eidinger

Copyright: Jakub Bejnarowicz, Port au Prince, Schwarzweiss, Senator 2024

und Lilith Stangenberg, die die beiden Kinder spielen,

Copyright: Jakub Bejnarowicz, Port au Prince, Schwarzweiss, Senator 2024

sowie des von Robert Gwisdek gespielten Komponisten,

Copyright: Jakub Bejnarowicz, Port au Prince, Schwarzweiss, Senator 2024

seien Teile von ihm selbst. So, wie er ist, und so wie er hätte geworden sein können.

Seine Beschreibung von den Dreharbeiten klingen nach einer Utopie, die für kurze Zeit wahr geworden ist. Sie trafen sich morgens, drehten ohne Probe und ohne Vorbereitung, erlebten sozusagen das Drehbuch, ließen dem Geschehen freien Lauf, orientierten sich nicht an festgelegten Zeiten für Mittagessen, sondern saßen abends noch zusammen und aßen dann gemeinsam, „reden viel, über uns, über die anderen und über das Unglück der Zeit“, wie in der Director‘s Note steht.

Der Film heißt Sterben nach dem titelgleichen Stück, das von einem Jugendorchester im Film geprobt und, dirigiert von der von Lars Eidinger gespielten Figur zur Aufführung gebracht wird. Übrigens zwei Mal, und das sehr verschieden, mehr kann dazu hier nicht verraten werden. Komponiert hat dieses Stück der in Würzburg geborene Musiker Lorenz Dangel. Er war, sagt Matthias Glasner, von Anfang an involviert, und ebenso wie der Komponist im Film, gehadert und gekämpft, bis die Komposition irgendwann, als es darum ging, jetzt oder nie, vollendet war. Die Musik von Lorenz Dangel ist in vielen FFF-geförderten Filmen zu hören: So in Schläfer (2005), Der Herrscher von Edessa (2008), Der Räuber (2009), Die zwei Leben des Daniel Shore (2009), Hell (2011), Hirngespinster (2014), Landgericht (2017) und Tides (2021). Mit Matthias Glasner hat Lorenz Dangel in Landgericht und Blochin gearbeitet. Das Stück wird im Film, wie gesagt, ausführlich geprobt, und dabei wird klar, dass es dem Komponisten darum geht, Kitsch um jeden Preis zu vermeiden. Kitsch sei, wenn das Gefühl die Wirklichkeit nicht treffe.

Kitschig ist auch Sterben in keiner Weise. Dieser Film sei, so Lars Eidinger, der unromantischste Film. Er sei aber auch der romantischste, sagt Ronald Zehrfeld, der einen Zahnarzt spielt, dem in einer der durchaus auch vorhandenen abenteuerlichen Szenen ein Zahn gezogen wird.

Copyright: Julian Mathieu / Port au Prince

Matthias Glasner hat als Autor und Regisseur Sterben gemeinsam mit Jan Krüger und Ulf Israel auch produziert, mit seiner Firma Schwarzweiss Filmproduktion, Port au Prince Film & Kultur Produktion und Senator Film; beteiligte Sender sind ZDF und Arte. Den Weltvertrieb hat The Match Factory übernommen und den Kinofilm während der Berlinale in viele Territorien verkauft, unter anderem nach Frankreich, Italien, Griechenland, Taiwan und Südkorea.

Youtube

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More Information

In Deutschland bringt Wildbunch Germany Sterben am 25. April 2024 in die Kinos.

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Redaktion: Dr. Olga Havenetidis
Digitales Storytelling und Gestaltung: Schmid/Widmaier

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