Wir wollen
auf die
Gefühls-
ebene der
Zuschauer
einwirken

In der FFF-geförderten Experience Lili Marleen – Damaskus des Münchner Rationaltheaters sollen Theater, Film und Virtual Reality auf bisher ungekannte Arte zusammenfließen.
Text von Jürgen Moises
6 Minuten Lesezeit
(c) Rationaltheater

Der Krieg in der Ukraine dauert an. Und obwohl es weiterhin keine Aussicht auf ein Ende der Gräuel gibt, ist dieser Krieg bereits historisch. Was ihn nämlich schon jetzt von allen anderen unterscheidet: Noch nie zuvor haben Drohnen eine solch große Rolle gespielt. Als ferngesteuertes Kriegsgerät erwecken die auch schon in Afghanistan, im Irak oder in Syrien eingesetzten Kampfdrohnen dabei oft den Eindruck, hier ginge es weniger blutig zu. Das gilt aber maximal für die Piloten, die sie steuern. Für die militärischen und vor allem zivilen Opfer bringt der Drohnenkrieg genausoviel Leid und Tod. Und das ist etwas, das wir beim Reden darüber nie aus dem Blick verlieren sollten. So sieht es auf jeden Fall der Leiter des Münchner Rationaltheaters Dietmar Höss.

Genau das ist auch der Grund, warum er in seiner Trilogie Lili Marleen den Krieg aus der Perspektive der Zivilbevölkerung schildert. Der erste Teil, Lili Marleen – Berlin, hatte 2017 in dem legendären, 1965 von Reiner Uthoff gegründeten Theater in der Hesseloherstraße in Schwabing Premiere. Es gab 20 ausverkaufte Vorstellungen. Zudem wurde das Stück ins Englische und Russische übersetzt. Jetzt steht mit Lili Marleen – Damaskus die Produktion des zweiten Teils an. Wobei es eigentlich mit Lili Marleen – Saigon zuerst nach Vietnam anstatt nach Syrien gehen sollte, wie Dietmar Höss am Telefon verrät. Die Idee war: Inspiriert vom Hollywood-Film Die durch die Hölle gehen das Theater in „eine Spielhölle“ zu verwandeln. Mit amerikanischen und vietnamesischen Soldaten. Und dazwischen als Prostituierte: Lili Marleen.

(c) Marile Glöcklhofer
Prof. Dr. Hans-Peter Söder, Alex Trommler, Valentin Diehl, Alicia Guenther, Raphael Wiegand, Dietmar Höss, Tanja Schweigl, (Videobild) Fiona Bumann

Dann erschien Höss die andere Geschichte aber dringlicher. Weil sie nicht wie der Vietnamkrieg in die Zeit von 1955 bis 1975, sondern mit dem 2011 in Syrien begonnenen und durch den Sturz Assads nicht zwangsläufig beendeten Bürgerkrieg in die Gegenwart führt. Hinzu kommt mit den Drohnen eine neue, moderne Art der Kriegsführung. Um das Ganze auch auf moderne Weise zu thematisieren, will Höss bei der Produktion Virtual Reality (VR) beziehungsweise Extended Reality (XR) als Technik einsetzen. Dafür hat sich der Theatermacher, gelernte Dokumentarfilmer und Filmproduzent beim FFF Bayern für eine XR-Prototypenförderung beworben und diese in Höhe von 30.000 Euro auch bekommen. „Ohne die Förderung durch den FFF“, sagt Höss, „hätten wir das als privates Theater nicht geschafft.“

Und das was Dietmar Höss und sein Theater- und Technik-Team da vorhaben, das hat es durchaus in sich. Dabei klingt die zentrale Story zunächst recht einfach. Da wären mit LM (Lili Marleen) und P (Pilot) zwei junge Drohnenpiloten, die sich patriotisch für ihr Land einsetzen wollen. Sie sitzen in einer Luftleitzentrale für Drohneneinsätze, deren Kommandozentrale das zentrale Bühnenbild im Stück darstellt. Ihr Auftrag: Mit der Drohne eine Zielperson in Aleppo auszuschalten. Das sieht zunächst sehr abstrakt aus, wie in einem Computerspiel. Dann wird aber der „Kollateralschaden“ ihres Angriffs, das Leid, die Angst der Zivilbevölkerung auf ihren Displays sichtbar. Und sie beginnen ihre Aktion in Frage zu stellen.

Leutnant: Wolf Orreal (Video: Jüdischer KZ Häftling, Name unbekannt)

An dieser Stelle kommt die VR-Technik, kommen die Zuschauer*innen ins Spiel. Denn diese sehen nicht nur die Kommandozentrale auf der Bühne. Sie können mit dem Aufsetzen einer VR-Brille während der Aufführung auch die „entpersonalisierte“ First-Person-Ansicht der Drohne erleben. Und mit einem Knopfdruck können sie außerdem die Perspektive der Opfer am Boden einnehmen. „Die Herausforderung ist“, so Dietmar Höss, „dass die Zuschauer das auswählen können, wie sie wollen.“ Sie können jederzeit zwischen den Perspektiven der Piloten, der Drohne und der Opfer wechseln. „Der Zuschauer schneidet sozusagen den Film im Kopf selber.“ Aber: „Die Geschichte muss komplett erzählt werden, ohne Unterbrechung.“

Und wenn das gelingt? „Dann haben wir etwas, glaube ich, ziemlich Einzigartiges entwickelt“, erzählt Höss. „Etwas, das es, zumindest soweit ich das kenne, so noch nicht gibt.“ Und genau das wollen sie nun mit ihrem auf fünf Minuten angelegten Prototypen erproben. Später soll dann im Idealfall eine „anderthalbstündige, abendfüllende Produktion“ daraus werden, die 2026 Premiere hat. Die Lili Marleen, die als eine übergreifende, auf das berühmte Soldatenlied anspielende Figur die Trilogie-Teile verbindet, soll die junge Schauspielerin Fiona Bumann spielen. Für die zweite, männliche Figur seien, so Höss, aktuell zwei Schauspieler in der näheren Auswahl. Und dann spielt natürlich das technische Team eine entscheidende Rolle.

(c) Roland Sadlek
Dietmar Höss

Dazu gehört zuallererst Valentin Diehl. „Das ist unser technischer Direktor, der uns bei der ganzen technischen Umsetzung hilft.“ Dann ist da Raphael Wiegand, Licht- und Tontechniker vom Marionettentheater „Kleines Spiel“. Und dann „haben sich jetzt schon mehrere Leute gemeldet, die Lust haben, da mitzumachen“. Und das auch ehrenamtlich, erzählt Höss. Denn trotz einer weiteren Förderung durch die Stadt München: „Wir sind da finanziell extrem eingeschränkt.“ Damit sie überhaupt wissen, was technisch möglich ist, hatten sie kürzlich einen der Gründer der „VR Familie“ im Haus. Einer 2019 entstandenen Facebook-Community zum Thema Oculus Quest. „Der hat uns einiges gezeigt. Das war hochinteressant.“ Außerdem stünden sie mit dem Stadttheater Augsburg, das seit 2020 eine „virtuelle Bühne“ hat, und dem XR Hub Bavaria im Austausch.

Dass sie jedenfalls im Rationaltheater technische Herausforderungen nicht scheuen, haben Höss & Co. mit ihren letzten Produktionen gezeigt. Da ging es um Robotik und KI. Für die eine haben sie einen fast drei Meter hohen Roboter gebaut. „Einen Wolpertinger, der aus mehreren Figuren bestand. Der war so hoch wie unsere Bühne.“ Das andere war „eine Art Talkshow“ mit Hannah Arendt und Albert Einstein, wo die KI unter anderem „mechanisches Klavier“ gespielt hat. Aber: „Wir wollen nicht, dass die Zuschauer sagen: Toll, das war ein toller Effekt!“, so Höss über die beiden Produktionen und Lili Marleen – Damaskus.

Das Ziel sei nun stattdessen: „Wir wollen mithilfe von VR auf die Gefühlsebene der Zuschauer einwirken, ohne dass sie das bewusst wahrnehmen.“ So wie es Dietmar Höss selbst vor drei oder vier Jahren bei einer VR-Vorführung im „Forum der Zukunft“ in München erlebt hat. Da war er virtuell in einer Wohnung. Dann ist eine Drohne explodiert. Und er machte die Erfahrung, dass er „nichts mehr selber in der Hand hat, nichts mehr kontrollieren kann.“ Da war ihm klar, „dass wir jetzt mit dieser Technik arbeiten“, erzählt Höss. Um auch den Besucher*innen des Theaters dieses Gefühl zu vermitteln. Und wenn es ihnen zu viel wird? Dann können die Zuschauer*innen die Brille wieder absetzen. 

Herausgeber: FilmFernsehFonds Bayern GmbH – Presse und Information
Text: Jürgen Moises
Fotos: Rationaltheater, Mario Steigerwald, Roland Sadlek
Redaktion und digitales Storytelling: Olga Havenetidis
Gestaltung: Schmid/Widmaier

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